Ein Fahrrad, vorne und hinten je ein Kindersitz. Das Modell Gemini von Riese und Müller irritiert die Sehgewohnheiten. Auf den zweiten Blick jedoch ergibt das Konzept viel Sinn. Ein kompaktes Alltagsfahrzeug, das manches Elterntaxi überflüssig machen könnte. Das Problem: Gemini kam im Jahr 2003 auf den Markt; in einer Zeit also, als selbst Fahrradanhänger noch Exotenstatus hatten. „Das lief halt gar nicht“, sagt Sandra Wolf. Die Leute hätten überhaupt nicht gewusst, was sie damit anfangen sollen. Damals, so die Riese-und-Müller-CEO, sei es so gewesen: „Wenn du zwei Kinder hast, dann fährst du mit dem Auto.“

Auch wenn Gemini floppte, das Modell verkörpert die Prinzipien des hessischen Fahrradherstellers in Reinkultur: „Alltagsmobilität“ sei die Grundidee aller Räder von Riese und Müller, erklärt Wolf im FUTURE MOVES Podcast. Ob beim ersten, auf Handgepäckgröße faltbaren Modell Birdy, beim konsequenten Einsatz komfortabler Federungen oder den vergleichsweise massiv wirkenden, weil eben auf typische Pendeldistanzen und alle Witterungen ausgelegten E-Bikes. Lange bedeutete das Festhalten an diesem Prinzip, ein Nischenhersteller zu bleiben. Doch inzwischen wächst das Unternehmen rasant. Von 2019 bis 2020 legte der Umsatz um 60 Prozent auf rund 150 Millionen Euro zu. Im Jahr darauf konnten die Hessen ihn auf 313 Millionen Euro mehr als verdoppeln. 

„Ich finde es schon wirklich irre, wie sich dieser Markt entwickelt“, sagt Wolf, die vor rund neun Jahren als geschäftsführende Gesellschafterin zu Riese und Müller kam. In den vergangenen drei Jahren habe sich eine „unheimliche Dynamik“ entwickelt. Die zeige sich in einer Vielzahl neuer Player, aber auch dadurch, dass selbst Firmen aus der Autobranche wie Porsche auf dem Fahrradsektor aktiv würden. Zugleich sagt Wolf aber auch: „Wir lassen uns meistens wenig beeindrucken von Strömungen.“ 

Anders formuliert: Nur weil der Zeitgeist die eigenen Prinzipien eingeholt hat, sollte man nicht an ihnen rütteln. Der Boom der Branche bietet Wolf allerdings mehr Gestaltungsraum den Gedanken umzusetzen, mit dem Markus Riese und Heiko Müller im Jahr 1993 ihre Firma gegründet haben. „Wir haben einen Auftrag“, sagt Wolf, „und der heißt, die Mobilitätswende mitzugestalten.“ Wobei dieses „wir“ größer sei als ihre eigene Firma. Die ganze Industrie befinde sich in einem Wandel von einer Fahrrad- zu einer Mobilitätsbranche.

Riese und Müller wird oft als „Mercedes der Fahrräder“ bezeichnet. Auf der einen Seite ist das natürlich ein Kompliment und der Grund, warum die Kund*innen bereit sind, ihr Geld in die eher hochpreisigen Bikes zu investieren. Zugleich steckt darin aber auch eine Mahnung, sich nicht auf diesem Label auszuruhen. Denn die Automobilbranche erlebt es ja gerade, wie schnell neue Player, die die Digitalisierung besser verstanden haben, an einem vorbeiziehen können.

Darum pusht Riese und Müller das Thema Connected Bike seit Jahren. Inzwischen steckt in jedem neuen Rad ein Chip. Der verknüpft das Fahrrad gegen eine jährliche Gebühr mit einem eigenen Ökosystem aus digitalen Services und Versicherungen. Außerdem gewinnt der Hersteller so datenschutzkonform wertvolle Erkenntnisse, wie seine Räder genutzt werden. Daten, so Wolf, würden auch in der Fahrradbranche bald die zentrale Rolle spielen, wenn es um die Entwicklung neuer Produkte geht und die Sicherheit von Radfahrenden im Verkehr zu erhöhen. 

„Wir wissen es einfach nicht, wo noch Fallstricke sind“

Sandra Wolf, CEO Riese und Müller

Ein zweites Feld, auf dem die Hessen bei der Mobilitätswende eine Pionierrolle einnehmen wollen, ist das Thema Nachhaltigkeit. So sei es etwa gelungen, durch ein neues Warensicherungssystem im Lager den Einsatz von Plastik um 95 Prozent zu reduzieren. Aktuell denke man über Mehrwegverpackungen für die Auslieferung zu den Kund*innen nach. Die viel größere Herausforderung beim Thema Nachhaltigkeit stecke jedoch in Bereichen, über die man als Hersteller nicht unmittelbar die Kontrolle habe, so Wolf.

Zwar arbeite Riese und Müller viel mit europäischen Lieferanten zusammen, aber wie die gesamte Branche würden auch die Hessen zentrale Komponenten aus Asien beziehen, erklärt die CEO. Und einem vergleichsweise kleinen Hersteller wie Riese und Müller sei es nicht möglich, alle Zulieferer dieser Zulieferer zu kontrollieren. „Wir wissen es einfach nicht, wo noch Fallstricke sind“, sagt Wolf im FUTURE MOVES Podcast. Aber sie halte wenig davon, diese Unsicherheit darum einfach nicht zu thematisieren. „Es ist meine meine absolute Überzeugung, dass es mein Auftrag ist, hier Transparenz reinzubringen, um wirklich in der Lage zu sein, an diesen Themen zu arbeiten.“

Über diese Themen spricht Sandra Wolf im FUTURE MOVES Podcast:

… die Kultur des Ausprobierens trotz Risiko falsch zu liegen (3:11)

… Beharrlichkeit und Fokus auf Alltagstauglichkeit (5:37)

… Prinzipientreue in einer immer dynamischeren Branche (10:00)

… Autokonzerne als künftige Mitbewerber (13:50)

… Riese und Müller als Enabler der Mobilitätswende (16:09)

… Daten über Fahrradnutzung, Produktentwicklung und Assistenzsysteme (18:00) 

… Austausch zwischen Fahrrad- und Autoindustrie (21:32)

… Einblicke in das Mobilitätsverhalten der Kund*innen (24:07)

… die wachsende Bedeutung von Leasing- und Abomodellen (26:35)

… Nachhaltigkeit in der Fahrradindustrie (30:34)

… welche Herausforderung komplexe Lieferketten bedeuten (36:54)

… die Motivation hinter ihrem Engagement für Nachhaltigkeit (40:04)

… Allianzen für die Mobilitätswende (44:36)

… Stand der Verkehrswende in deutschen Städte (49:50)

… ihren „Mix der Woche“ (52:15)