Wie New Mobility für Senior:innen attraktiv wird
2030 wird fast ein Drittel aller Deutschen über 65 Jahre alt sein. Welche Ideen gibt es, die Mobilitätsbedürfnisse der Silver Ager zu berücksichtigen?
Wir leben in einer alternden Gesellschaft. Nach Schätzungen des Umweltbundesamts wird im Jahr 2030 fast jede dritte Person 65 Jahre oder älter sein – und nur rund ein Fünftel der Bevölkerung jünger als 20. New Mobility darf also nicht bloß Science-Fiction-Karosserien mit volldigitalen User Interfaces entwickeln. Sondern es wird essenziell, die Mobilitätsmuster und -bedürfnisse von älteren Menschen mit innovativen, benutzerfreundlichen Verkehrskonzepten und -produkten zu verbinden.
„Das ist eine sehr breite Zielgruppe mit sehr unterschiedlichen Lebenslagen und auch sehr unterschiedlichem Mobilitätsverhalten“, sagt Silke Edelhoff. Die Mobilitätsmanagerin ist Leiterin des EU-Projekts Green Silver Age Mobility (GreenSAM). Das Forschungs- und Praxisvorhaben suchte in acht Städten im Ostseeraum Antworten auf die Frage, wie nachhaltige Mobilitätskonzepte wie Bikesharing und ÖPNV für ältere Menschen attraktiver gestaltet werden können.
„Man lädt sich eine App runter und dann weiß man, wie es geht? Nicht für ältere Menschen“
Silke Edelhoff
„Es gibt natürlich Anforderungen, die mit zunehmendem Alter immer wichtiger werden: Die Körperkraft nimmt ab, die Flexibilität nimmt ab sowie die Fähigkeit, sich auch auf neue, unerwartete Situationen einzulassen“, sagt Silke Edelhoff. Umwege würden immer mühsamer und auch die Offenheit für Neues sei nicht mehr so ausgeprägt. „Das trifft früher oder später jeden in unterschiedlicher Form.“ Eine weitere Herausforderung für ältere Menschen: digitale Mobilitätsanwendungen. „Man lädt sich eine App runter, spielt ein bisschen damit rum und dann weiß man, wie es geht – das funktioniert halt für viele ältere Menschen nicht“, so Edelhoff.
Nach drei Jahren Projektlaufzeit kam im vergangenen Jahr eine Toolbox mit Anleitungen und Modelllösungen für die sogenannten Silver Ager heraus. Ein zentrales Element in allen Pilotprojekten: die Beteiligung der Zielgruppe – der Green Silver Ager. „Es ging darum, wirklich in den Dialog zu treten und mit der Nutzergruppe gemeinsam die Anforderungen zu erarbeiten und zu erfragen – und eben verschiedene Formate, die das Spektrum von Beteiligung abdecken, zu erproben“, erklärt Projektleiterin Edelhoff. Mithilfe von Fishbowl-Diskussionen, Stadtspaziergängen, Interviews, Befragungen bis hin zu Online-Veranstaltungen und Wettbewerben arbeiteten die Initiator:innen mit ihrer Zielgruppe. All diese Methoden stehen Planer:innen von neuen Mobilitätsangeboten als Toolbox auf der Projekt-Website zur Verfügung.
„Das Abbauen von Hemmschwellen ist ein ganz zentraler Faktor“
Silke Edelhoff
So wurde in Danzig etwa ein neues Beratungsgremium für grüne Mobilität eingerichtet – der Beirat für aktive Mobilität von Senior:innen beim Seniorenstadtrat. Außerdem testeten Senior:innen aus mehreren Altersheimen in der polnischen Stadt E-Dreiräder. Im estnischen Tartu erstellten die Projektbeteiligten unter Einbezug von älteren Menschen vier Erklärvideos und Anleitungen in Papierform dazu, wie man sich für das städtische Fahrradverleihsystem anmeldet und dieses nutzt. Einfache Mittel mit großem Effekt: Daraufhin hat sich der Anteil der Generation 60+ bei den Nutzer:innen des Fahrradverleihsystems verdoppelt. „Dieses Abbauen von Hemmschwellen durch Training, durch Mentoring, durch persönliche Unterstützung und spezifische Information, ist ein ganz zentraler Faktor“, erklärt Edelhoff.
Für Senior:innen in Riga entstand ein Mobility Lab, in dem sie zu ihrem Mobilitätsverhalten und ihren Bedürfnissen befragt wurden – und ihre Technikkenntnisse durch Workshops verbessern konnten. Der Fokus auf altersgerechtem ÖPNV lag bei Projekten in Turku, Aarhus und Hamburg. Wichtig war den Silver Agern bei der Gestaltung von U-, S- und Busstationen eine leichte Orientierung, wenig Stressfaktoren sowie gute Lesbarkeit von Informationen. „Mich nervt es ja schon, wenn ich mich nicht gut orientieren kann an einer Haltestelle, die ich vielleicht noch nicht kenne und an der die Beschilderung lückenhaft ist oder nicht gut lesbar“, sagt Silke Edelhoff. „Aber das ist natürlich für Leute, für die ein Umweg körperliche Arbeit bedeutet, nochmal doppelt so schlimm.“
Auch der Service an Umsteigepunkten war laut Befragungen ein wichtiger Punkt für Senior:innen. „Toiletten sind total wichtig“, so Edelhoff. Ein wirklich gutes Netz an öffentlichen Toiletten komme nicht nur Senior:innen zugute, sondern ist auch für Familien mit kleinen Kindern attraktiv. „Viele genannte Punkte sind tatsächlich so, dass man sagen kann: Das macht vor allem den öffentlichen Nahverkehr, aber auch insgesamt die Infrastruktur besser, ist aber für manche Bevölkerungsgruppen wie ältere Menschen besonders wichtig.“
„Dorfbewohner, die es kaum erwarten können, mit einem selbstfahrenden Auto zu fahren“
Oliver Cameron
Neben Bikesharing und einem altersgerechten ÖPNV könnten weitere New-Mobility-Services für Senior:innen spannend werden: das autonome Fahren. Mit seinem Start-up Voyage entdeckte Oliver Cameron mit als Erster das Potenzial von selbstfahrenden Autos für Senior:innen. Bereits zwischen 2017 und 2018 testete er seine autonomen Taxen in riesigen Seniorenwohnanlagen in den USA. In der sogenannten Gated Community „The Villages“ in Florida, einem abgeschlossenen Wohnareal mit über 100 Quadratkilometern Fläche, leben mehr als 100.000 Menschen – überwiegend Senior:innen. Der Test war erfolgreich: „In nur kurzer Zeit haben wir so viele begeisterte und eifrige Dorfbewohner getroffen, die es kaum erwarten können, regelmäßig mit einem selbstfahrenden Auto zu fahren“, schrieb Cameron kurz nach der Testphase auf seinem Blog. Und auch Japan, einer der ältesten Gesellschaften der Welt, testet seit 2017 immer wieder autonome Taxen in ländlichen Gebieten.
Eine Blaupause für Deutschland? Autonome Taxen bieten für ältere Menschen, die häufig auf dem Land wohnen, viel Potenzial, sofern sie altersgerecht ausgestattet sind, nicht nur durch Smartphones oder generell per Internetzugang buchbar sind und sie vor der Haustür abholen. Doch die Senior:innen sind noch nicht ganz überzeugt. Laut einer Studie des Digital-Vereins Bitkom wünschen sich immerhin 39 Prozent der befragten Senior:innen ab 65 Jahren eine rasche Zulassung von autonomen Bussen in Deutschland. Fast die Hälfte der Befragten plädiert hingegen auf ein Verbot der Technologie. Und hier könnten sich Planer:innen dieser Mobilitätslösungen an der Toolbox von Green SAM bedienen: Der Schlüssel, um ältere Menschen für New Mobility zu begeistern, ist die Bürger:innenbeteiligung.
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Oliver Cameron
Mit seinem Start-up Voyage hat er mit als erster das Potential von selbstfahrenden Autos für Senior:innen entdeckt. Getestet wurden die selbstfahrenden Taxen in einer Seniorenwohnanlage in Florida – “The Villages”. Im März 2021 erwarb die Robotaxi-Firma Cruise, eine Tochter von General Motors, den Laden. Cameron leitet heute das Produktteam von Cruise.
Jakob Kammerer
Kammerer ist Head of Autonomous Mobility bei ioki. Das Tochterunternehmen der Deutschen Bahn liefert unter anderem Software für On-Demand-Shuttlebusse. Kammerer entwickelt das Programm, um fahrerlose Fahrzeuge mit dem Service von ioki zu verbinden. Und auch sie setzen auf Senior:innen und stellen ihre Angebote in Altenheimen vor.