Wie Gratis-Kaffee Reisende in die Öffis lockt
Die Schweizer Firma Axon Vibe hilft ÖPNV-Unternehmen, mehr Fahrgäste zu gewinnen. Das gelingt sensationell gut, wenn man die richtigen Lockmittel einsetzt, wie ein aktuelles Projekt in Japan zeigt
Innerhalb der nächsten Stunde möchtest du zur Arbeit fahren, üblicherweise nimmst du dafür das Auto. Auf der üblichen Route gibt es eine Verkehrsstörung. Deine neue Navi-App warnt dich rechtzeitig davor und bietet automatisch eine ÖPNV-Alternative an. Du verlässt also zehn Minuten früher das Haus, nimmst Bus und U-Bahn und kommst pünktlich im Büro an. Selbst intermodale Reiseketten sind buchbar, sodass die App vom Bahnhof zum Ziel beispielsweise ein Uber ordern und bei Verspätungen ab- und erneut bestellen kann. Die zugrunde liegende Idee hinter der Navi-App ist jedoch eine andere als „nur“ ein schlaues Navi mit Ticket-Buchungsfunktion zu sein.
„Mit dieser Assistenzfunktion informieren wir Pendler über Störungen, aber natürlich versuchen wir auch Autofahrer in den ÖV zu kriegen. Und zwar aktiv.“ Und das gelänge nicht durch simple Mechaniken wie eine Auszeichnung für Umweltfreundlichkeit, sondern durchaus durch praktische Vorteile wie den eingangs geschilderten: „‚Wir sparen heute 30 Kilogramm CO2‘ funktioniert nicht. Aber die Info ‚Sie sind 20 Minuten schneller am Ziel‘ funktioniert sehr gut“, erklärt Roman Oberli. Er ist der CEO von Axon Vibe, einem Unternehmen, das dabei helfen soll, den ÖPNV-Anteil im Verkehrsmix von 15 bis 20 Prozent deutlich zu erhöhen. Axon Vibe steckt hinter der „Tokyo Nudge App“. Dort zeigt Oberli bereits, wie stark seine App ist.
Das nötige Know-how dafür hat Oberli allemal: „Unsere Vorgängerfirma wurde 2006 an Google verkauft und wurde ein Teil von Google Maps“, erklärt er. Und er hat ambitionierte Pläne: „Wir möchten jetzt ein, zwei Generationen weiter denken und den Vorteil ausnutzen, dass wir kleiner sind als Google.“ Deshalb könne Axon mehr Risiken auf sich nehmen und sich dazu entscheiden, einen digitalen Reiseassistenten zu entwerfen, der mit einer Trackingkomponente ausgestattet ist und deshalb die Bewegungsprofile von Nutzenden auswerten kann. Weil die Aufzeichnung „24 zu 7“ läuft, sei der Datenschutz natürlich besonders wichtig.
Die Daten nutzt Axon Vibe in Japan, obwohl dort der ÖPNV-Anteil im Verkehrsmix mit rund 80 Prozent heute schon deutlich höher ist als hierzulande. Die Tokyo Nudge App, die im Auftrag der EAST Japan Railway Company (kurz: JR EAST) entwickelt wurde, nutzt die Bewegungsdaten nicht, um zusätzliche Reisende vom ÖPNV zu überzeugen. Stattdessen steckt ein anderes Ziel dahinter: „Die Haupteinnahme-Steigerung ist in Japan künftig Real Estate, nicht die Passagiere“, sagt Oberli. „Beim Passagiertransport in Japan sind wir an einer Decke angekommen. Da können wir noch Ticketpreise erhöhen, aber mehr Passagiere transportieren geht fast nicht.“ Chancen für zusätzlichen Umsatz böten dort die hochentwickelten und zu entwickelnden Bahnhofsareale in bester Lage. „Wir sind mit dem sogenannten Lifestyle-Department von JR EAST zusammengekommen. Das ist der Real-Estate-Arm. Dessen Wunsch: Wachstumsraten von 35 Prozent“, sagt Oberli. Gleichzeitig wolle JR EAST „etwas Gutes tun für die Mieter“. Auf gut Deutsch: Mehr Leute müssen in die Bahnhofsläden.
„Dadurch konnten wir den Andrang zu Spitzenzeiten um 21 Prozent reduzieren.“
Roman Oberli, CEO Axon Vibe
„Also haben wir ein Loyalty-Scheme für JR EAST aufgebaut. Wir haben unterschiedliches ausprobiert und uns für Verspätungen entschuldigt oder für schlechtes Wetter.“ JR EAST bietet dann einen Coupon für kostenlosen Kaffee an und schickt Meldungen wie: „Sorry für das Wetter, trinke was Heißes“ oder „Du hast zehn Stunden gearbeitet, hol dir einen Gratis-Tee auf der Rückfahrt“. Mit der Gratis-Vermietung von Bahnhof-Arbeitsplätzen will JR EAST zudem den Spitzenandrang zur Rush Hour brechen und einen späteren Zug anbieten. „Von all denjenigen, die regelmäßig gependelt sind, konnten wir zu Stoßzeiten 45 Prozent mindestens einmal und 30 Prozent nachhaltig umlenken. Dadurch konnten wir den Andrang zu Spitzenzeiten um 21 Prozent reduzieren.“
Kaffeeketten wie Costa bestimmen dabei mit, wann Passagiere einen Gutschein angeboten bekommen. Wie sie davon profitieren ist klar: Neben dem Gratis-Kaffee nehmen Kund*innen dann gerne noch ein Sandwich dazu oder werden zu regelmäßigen Besucher*innen. Die Zahl jener, die erstmals in einem Coffee-Shop waren sei signifikant, die der Rückkehrer ebenso. Das Ansehen von JR EAST profitiere, weil die Angebote als Service, nicht als Werbung verstanden würden.
Bereits nach drei Monaten scheint die App für alle Beteiligten ein voller Erfolg zu sein. Das ursprüngliche Ziel, innerhalb dieser Zeit 1.000 Beta-Nutzer*innen zu ergattern, wurde übertroffen: Bereits nach 24 Stunden und 20.000 Anmeldungen wurde die Tokyo Nudge App vorerst aus dem App-Store entfernt. Sie soll jedoch dauerhaft zurückkehren. Auf der Verkehrstechnikmesse Innotrans gab Oberli bekannt, dass ein Teil der Angebote der White-Label-App in New York, Amsterdam, Großbritannien, Australien, aber auch bald in Applikationen der Deutschen Bahn zu finden sein werden. Es bleibt zu sehen, ob Gratis-Kaffee dann auch hier mehr Menschen in die Öffis lockt.
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Roman Oberli
2007 wurde Roman Oberli CEO von Axon Active, einem Beratungsunternehmen, das sich mit digitaler Transformation befasst. Seit 2014 leitet er Axon Vibe. Er führt ein Team von mehr als 100 Ingenieur*innen und Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen und an fünf Standorten.