Eine Ode an die Ladeweile
Warum immer so produktiv? FUTURE MOVES-Kolumnist Alan Atzberger will die Zwangspausen an der Ladesäule künftig zu Momenten der Muße machen – solange das noch möglich ist!
Ein Sommer voller Ausflüge und Roadtrips geht zu Ende. Für Elektroautofahrer:innen war er wahrscheinlich nicht nur gefüllt mit Grillabenden und Ausflügen an den See, sondern auch zahlreichen Stunden an der Ladestation. Auch ich habe auf meiner Reise durch die Toskana den ein oder anderen Boxenstop eingelegt – und obwohl die Ladezeiten immer kürzer werden, scheint mir das Warten jedes Mal endlos. Statt instinktiv zum Smartphone zu greifen, um die Zeit zu überbrücken, habe ich mich gefragt: Warum ist Warten eigentlich so unerträglich? Und warum haben wir immer das Gefühl, Zeit zu verlieren?
Menschen, die sich bisher gegen ein E-Auto entscheiden, bringen vor allem diese Argumente an: Es gibt teilweise zu wenige Ladestationen (zumindest für all diejenigen, die nicht den Luxus haben, zuhause laden zu können), die Ladezeiten sind zu langwierig, die Batteriekapazitäten nicht ausreichend. Gerade an dem letzten Punkt wird aktuell unter Hochdruck gearbeitet – und das mit Erfolg: Forscher:innen der Beijing University of Technology in China ist im Bereich Festkörper-Akkus erst vor wenigen Wochen der Durchbruch gelungen: Einer von vielen wichtigen Meilensteinen, der zu höherer Reichweite, geringerem Platzbedarf und mehr Sicherheit führen soll.
Ein weiterer Lösungsvorschlag, auf den aktuell chinesische Hersteller setzen, ist der sogenannte Battery-Swap. Hier wird Kund:innen an speziellen Stationen ein Batterieaustausch angeboten, der mithilfe von Robotern in innerhalb weniger als fünf Minuten stattfinden soll. Diese Punkte könnten viele vom Kauf überzeugen, und die Massentauglichkeit drängt: Schließlich hat die EU Ende Juni erst das Verbrenner-Verbot ab 2035 beschlossen.
Noch aber sind wir davon ein ganzes Stück entfernt. Je nach Modell sind für die Ladung eines E-Autos für einen Ladestand von 80 Prozent an einem Schnelllader etwa 20 bis 30 Minuten einzuplanen. Das führt zu Frust an der Saftausgabe. Und ich wage zu behaupten, dass daran auch die Aussicht auf innovative Technologien und kürzere Wartezeiten nichts ändern wird, im Gegenteil: Unsere Ungeduld wird wahrscheinlich weiter zunehmen.
„Wer während des Wartens Mails liest, wartet nicht, sondern liest Mails“
Alan Atzberger
Ich selbst erwische mich meistens dabei, darüber nachzudenken, wie ich meine Zeit effizienter nutzen könnte: Mails abarbeiten? Noch einen Call einschieben? Recherche für den nächsten Blogpost? Indem wir versuchen, unsere Zeit fortlaufend produktiv zu füllen, trainieren wir es uns ab, zu warten. Denn streng genommen ist es doch so: Wer während des Wartens Mails liest, wartet nicht, sondern liest Mails. Wir sind also immer dabei, den Wartezustand zu durchbrechen. So verlernen wir es regelrecht, einfach nur zu verweilen.
Doch warum empfinden wir dieses Verweilen als Bürde, haben ständig das Gefühl, die Zeit „effizient“ nutzen zu müssen? Wahrscheinlich sind wir gerade in Industrienationen darauf trainiert, Warten als Störfaktor wahrzunehmen. In der Zeit, in der gewartet wird, wird nämlich nicht geleistet. Nach Meetings, die unerwartet früher beendet werden, denke ich meist als erstes: Super, jetzt habe ich Zeit gewonnen und stürze mich direkt in die nächste Aufgabe. Kein Wunder, schließlich begleiten mich Sprüche wie „wer rastet, der rostet“ seit meiner Kindheit.
Dabei ist vor allem das Unterwegssein – ob Reisen oder Pendeln – mit Warten verbunden. Wir warten am Flughafen aufs Boarding, im Stau auf die Weiterfahrt und im Zug auf die Ankunft. Die Ungeduld zeigt sich in diesen Situationen oft in Akten der Verzweiflung. Kinder fragen ihre Eltern im Minutentakt: „Wann sind wir endlich daaaa???“ Und Autofahrer:innen können die Hand während der Rush-Hour gar nicht mehr von der Hupe nehmen, das Hupkonzert gehört in der Großstadt zum Feierabend. Am verbreitetsten ist dagegen wahrscheinlich der Griff zum Smartphone (illegalerweise wohl auch am Steuer). Die meisten Menschen versuchen damit, dem Gefühl der Machtlosigkeit entgegenzuwirken, das mit dem Akt des Wartens einhergeht.
Bis zur nächsten Innovationsstufe habe ich mir vorgenommen, geduldiger zu werden. Denn ich habe festgestellt, dass Warten echte Vorteile mit sich bringt. Bestes Beispiel: Hätte ich dem Impuls, mein iPhone aus der Tasche zu holen, immer nachgegeben, hätte ich mir die Gedanken zum Warten wohl gar nicht erst gemacht. Außerdem ergeben sich beim Warten nicht nur spannende Gedankengänge, sondern auch interessante Gespräche. Nicht umsonst stammt die Weltliteratur, die im Zug spielt, größtenteils aus dem letzten und vorletzten Jahrhundert. Die Verstrickungen und Konversationen zwischen den Protagonist:innen in Agatha Christies „Mord im Orientexpress“ oder Lev Tolstois „Kreutzersonate“ hätten niemals stattfinden können, hätten diese AirPods im Ohr gehabt.
Vor dem Hintergrund versuche ich auf der nächsten Zugfahrt, die Kopfhörer draußen zu lassen – zumindest teilweise. Und was das Warten an der Ladestation angeht: Lasst uns das Warten genießen, solange wir noch können – bevor die Ladezeit eines E-Auos der Tankzeit eines Benziners entspricht. Mir jedenfalls gefällt die Idee, Warten wieder salonfähig zu machen.
Alan Atzberger
Mobility und erneuerbare Energien – für diese Themen schlägt Alan Atzbergers Herz. Seine über zehnjährige Erfahrung in den Bereichen sammelte er bei Start-ups sowie börsennotierten Unternehmen (u.a. Tesla, Sonnen, Unu, Reach Now) in Vertriebs-, Business Development und Go-to-Market-Positionen. Aktuell berät Alan bei TLGG Unternehmen als Practice Lead Mobility & Energy von der Marketingstrategie bis hin zum Venture Building. Auf seinem Blog All About Mobility teilt er regelmäßig die neusten Trends und Updates aus der Szene.