Durch zunehmenden Online-Handel in den vergangenen Jahrzehnten und zuletzt die Corona-Krise ist das Paketaufkommen massiv angestiegen. Das Problem: Vollgepackte Lkw verstopfen die Straßen großer Städte und parken in zweiter Reihe – um Waren an Menschen auszuliefern, die unter Umständen sowieso nicht zu Hause sind, sondern bei der Arbeit. Dass das nicht besonders effizient und schon gar nicht ressourcenschonend ist, hat Deutsche Post DHL bereits 2001 verstanden. Seitdem betreibt der größte Paketdienstleister in Deutschland quasi Micro-Hubs, die inzwischen fast jede:r kennt: und zwar Packstationen.

Micro-Hubs sind Logistikzentren in Mini-Variante. Sie können in Form von Containern oder in Gebäuden als Sammelpunkte für Pakete an zentralen Orten von Innenstädten oder Wohnvierteln dienen. Bundesweit hat DHL heutzutage rund 8.000 Packstationen in oder an Supermärkten und anderen öffentlich gut erreichbaren Orten aufgestellt. Move21, ein europäisches Forschungsprojekt mit Millionenförderung der Europäischen Kommission, will jetzt zeigen, wie zahlreiche europäische Städte die Idee der Micro-Hubs umsetzen können. Allerdings sieht das Projekt noch weitere Features für die Micro-Hubs vor.

„Im Idealfall sind Micro-Hubs auch ein Knotenpunkt für soziale Aktivitäten.“

Dr. Jesús López Baeza
Dr. Jesús López Baeza ist wissenschaftlicher Leiter des Projekts Move 21

Die Wissenschaftler:innen erheben zunächst Daten zur Mobilität der Einwohner:innen, um daraus Rückschlüsse auf geeignete Standorte für die Micro-Hubs zu ziehen. Dabei spielen mehrere Faktoren eine Rolle: Welche Gebäude oder Flächen könnten sich für die Sammelzentren eignen? Sind sie gut erreichbar? Denn die Idee ist: Menschen sollen dort entweder bequem zu Fuß, mit dem Fahrrad oder anderen Formen der Mikromobilität ihre Pakete selbst abholen. „Denkbar ist aber auch, dass Lastenfahrräder oder kleine Elektrofahrzeuge bepackt werden und so die Waren im Viertel ausgeliefert werden“, so Dr. Jesús López Baeza, wissenschaftlicher Leiter des Projekts von der Hafencity Universität Hamburg. 

Aber die Micro-Hubs sollen mehr sein als bloß eine Paketsammelstelle, sondern weitere Funktionen erfüllen. „Im Idealfall sind diese Orte auch ein Knotenpunkt für soziale Aktivitäten in der Nachbarschaft“, so López Baeza. Denkbar sind Erholungs-, Begegnungs- oder Gemeinschaftsräume, die mit der Funktion des Mikro-Hubs verbunden sind. Denn die Hubs sollten an Orten entstehen, an die Menschen gehen, weil sie wollen und nicht weil sie müssen, so López Baeza. Konkret hieße das: Auf dem Weg ins Kino oder in eine Bar, wo man Freund:innen trifft, holt man sich bequem sein Paket ab. Dafür untersuchen die Wissenschaftler:innen, die Wegepfade von Menschen genau. Durch „digitale Zwillinge“ der Städte simulieren sie die Auswirkungen möglicher Micro-Hubs. 

Mit dem Projekt sollen ganze 15 Prozent der Schadstoff-Emissionen im Verkehrssektor reduziert werden. Das Ganze läuft aber nicht ohne die Beteiligung von Bürger:innen. „Wenn man möchte, dass die Menschen zu Fuß zum Micro-Hub hingehen und das Gefühl haben, dass es einen Platz in der Nachbarschaft gibt, der ihnen gehört, dann müssen wir die Bürger von Anfang an einbeziehen“, so López Baeza. Große Schwierigkeiten erwarte er dabei allerdings nicht, das würde die Beliebtheit von Paketstationen schon beweisen.

„Mobilität ist nicht nur etwas, das einem serviert wird, sondern man selbst gestalten kann.“

Prof. Dr. Jörg Noennig


„Man kann auch von einer ‚bewussten Mobilität‘ sprechen“, sagt Professor Jörg Rainer Noennig von der HafenCity Universität Hamburg. Er ist als Professor für Digital City Science ebenfalls am Projekt beteiligt. „Mobilität ist nicht nur etwas, was einem serviert wird, und man ist nur ein Kunde von Mobilitätsangeboten und -dienstleistungen. Mobilität ist etwas, das man selbst gestalten kann.“ Aktive:r Mobile:r sei jemand, der Entscheidungen darüber treffe, wie er sich in der Stadt bewegt, und sich bewusst sei, welche Auswirkungen die individuelle Entscheidungen im Persönlichen, aber auch auf der Gesellschaftsebene haben können. „Das ist, was dieses Projekt meiner Meinung nach bewirken muss, um wirklich eine Art Mobilitätswandel zu schaffen“, so Noennig.

Göteborg ist eines von drei Reallaboren des Projekts Move 21

Eine weitere Herausforderung des Projekts liegt in der Replizierbarkeit. Denn Move 21 ist nicht nur auf Hamburg, Göteborg und Oslo beschränkt. Die Erkenntnisse und Ideen sollen nach ganz Europa getragen werden. Als „Replicator Cities“ sind nämlich München, Rom und Bologna dabei. Dort sollen auch weitere Innovationen getestet werden. 15 zusätzliche Städte, sogenannte „Cascade Cities“, sind ein anschließender Teil des Forschungsprojektes und sollen ebenfalls von dem gewonnen Wissen profitieren. Basis dafür wird ein Toolkit mit konkreten Handlungsempfehlungen bilden, so der Plan. „Das wird wirklich schwierig, weil alle Situationen und Kontexte natürlich sehr spezifisch und sehr unterschiedlich sind“, sagt Professor Jörg Noennig von der HafenCity Universität Hamburg. Aber die „gigantische Aufgabe“, so Noennig, berge eben auch immenses Potenzial: Falls es den Wissenschaftlern gelingt, „reproduzierbare Lösungen“ zu finden, verbessern sie die Paketlogistik und machen zugleich Europas Städte nachhaltig abgasärmer und lebenswerter.

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Prof. Jörg Rainer Noennig

Prof. Jörg Rainer Noennig

Prof. Dr.-Ing. Jörg Rainer Noennig ist Professor für Digital City Science an der Hafencity Universität Hamburg und Leiter des Wissensarchitektur Laboratory of Knowledge Architecture an der TU Dresden. Er hat mehrere Bücher und mehr als 100 wissenschaftliche Arbeiten und Essays veröffentlicht sowie mehrere Preise, Stipendien und Auszeichnungen gewonnen.

Dr. Sebastian Stiehm

Dr. Sebastian Stiehm

Dr. Sebastian Stiehm arbeitet beim Beratungs- und Planungsunternehmen Agiplan als Senior Consultant. Gemeinsam mit Kollegen vom Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik hat er herausgefunden, unter welchen Voraussetzungen Micro-Hubs auch in mitteldeutschen Städten wie Krefeld, Mönchengladbach und Neuss umsetzbar sind. Ihre Ergebnisse stehen ihm Handbuch „Mikro-Depots im interkommunalen Verbund“.