Nachhaltige Autoreifen: Kann das „schwarze Gold“ grün werden?
Autoreifen schaden Umwelt und Klima durch Abrieb von Mikroplastik und hohem Energiebedarf bei Rohstoffgewinnung und Herstellung. FUTURE MOVES hat bei Michelin und Continental nachgefragt, wie die das ändern wollen
Der Autoclub ADAC testet es regelmäßig: Im Durchschnitt verlieren die vier Reifen eines Autos auf 1.000 Kilometer Strecke 120 Gramm Gewicht durch Abrieb. Das klingt zunächst mal nicht dramatisch, summiert sich aber auf bis zu vier Kilogramm während der Lebenszeit und auf eine halbe Million Tonnen jährlich in der EU. In Deutschland macht der synthetische Kautschuk, der von den Reifen abgerieben wird laut ADAC etwa ein Drittel aller Mikroplastik-Emissionen aus. Er bildet kleine Klümpchen mit Staub, Sand und Bestandteilen des Fahrbahnbelags, die vom Regen in den Boden und in die Gewässer geschwemmt werden.
Die Reifenindustrie versucht das Problem zu lindern. Jede Neuentwicklung ist allerdings ein Kompromiss. Denn die wichtigen Zielsetzungen – gute Haftung beim Bremsen und bei Kurvenfahrt, sicherer Grip bei Nässe oder Schnee, geringer Rollwiderstand und niedriges Geräusch – liegen weit auseinander. Immerhin kamen die Pkw-Reifen von Michelin, die am jüngsten ADAC-Test teilnahmen, auf nur noch 95 Gramm Abrieb pro 1.000 Kilometer, bei ordentlichen Allround-Eigenschaften. Das beste Reifenmodell von Continental schaffte sogar 59 Gramm, leistete sich jedoch in den traditionellen Kriterien leichte Schwächen. Die Richtung stimmt also, auch wenn es bislang nur in kleinen Schritten voran geht. Aber wie reduziert man den Abrieb überhaupt?
Continental nennt zwei wichtige Einflussgrößen. Wenn man das Profil des Reifens und die Karkasse im Unterbau steifer auslegt, verringert man den Schlupf. Und die Gummimischung der Lauffläche lässt sich mit so genannten Füllstoffen gezielt verschleißfester machen, zu ihnen gehören Partikel aus Industrieruß („Carbon Black“). In die gleiche Richtung entwickelt auch Michelin. Cyrille Roget, Global Scientific Communication Director des Unternehmens, bringt weitere Faktoren ins Spiel: „Je schwerer ein Auto, desto höher der Reifenabrieb – hier sind große SUV und Elektroautos nachteilig. Und die Fahrer:innen spielen eine große Rolle. Wer umsichtig fährt, kann mit einem Satz Reifen doppelt so weit kommen wie ein sportlicher Typ.“
Im Life Cycle Assessment (LCA) von Michelin, das alle Umweltbelastungen aufführt, steht der Reifenabrieb an erster Stelle, noch vor dem Materialeinsatz. Und auch der ist ein Feld, das viele Verbesserungsmöglichkeiten bietet. Autoreifen bestehen aus mehr als 200 unterschiedlichen Komponenten; die wichtigsten sind synthetischer Kautschuk, Naturkautschuk und die so genannten Füllstoffe.
Synthetischer Kautschuk entsteht durch petrochemische Verfahren; seine Hauptbestandteile sind der Kunststoff Polystyrol und das Gas Butadien. Michelin arbeitet daran, dieses Gas durch Bioethanol aus Holz- und Landwirtschaftsabfällen zu ersetzen. Beim Polystyrol läuft ein Entwicklungsprojekt, das auf dem Recycling alter Joghurtbecher basiert. Zur Verstärkung der Karkassen will der Reifenriese aus Clermont-Ferrand ein Fasergewebe aus ehemaligen Plastikflaschen nutzen. Continental hat diese Technik bei einigen Reifentypen vor kurzem in Serie gebracht – in jedem dieser Pneus stecken zehn alte PET-Flaschen.
Und was ist mit dem Naturkautschuk im Reifen? Auch dieser Stoff mit dem harmlos klingenden Namen ist nicht unproblematisch. Der Baum Hevea Brasiliensis wächst in der Äquatorzone zumeist in Monokulturen. Continental, Michelin und andere große Reifenhersteller haben Initiativen gegründet, um die Arbeitsbedingungen und den Naturschutz in den Pflanzungen zu verbessern. Die jedoch verteilen sich auf Tausende kleiner Produzenten, das macht die Untersuchung und Bewertung schwierig.
Als Alternativen untersucht die Reifenindustrie Russischen Löwenzahn und den zentralamerikanischen Guyale-Strauch; beide Pflanzen sind im Anbau genügsam. Doch Cyrille Roget von Michelin bremst die Erwartungen: „Ein Kautschukbaum wächst sieben Jahre lang hoch und liefert dann 40 Jahre lang Latexsaft. Die Alternativen dazu sind im industriellen Maßstab noch nicht effektiv.“ Continental hat zwar seit drei Jahren Fahrradreifen mit Löwenzahn-Kautschuk auf dem Markt, erwartet jedoch kurzfristig keinen Durchbruch bei den Autoreifen.
Unter den Füllstoffen im Reifen besitzen Silica, das den Rollwiderstand verringert, und der bereits erwähnte Industrieruß besondere Bedeutung. Continental erwägt, Silica einzusetzen, das nicht auf Sandbasis, sondern aus der Asche von Reishülsen entsteht; diese Hülsen eignen sich nicht als Nahrungsmittel oder Tierfutter. Den Ruß will der deutsche Hersteller ebenso wie der französische künftig per Recycling aus ausgedienten Reifen holen; zugleich lässt sich bei diesem Verfahren, das per Pyrolyse (Verschwelung) abläuft, auch Öl zurückgewinnen. Jedes Jahr fallen auf der Welt eine Milliarde Altreifen an – ein effizientes Recycling würde dem Begriff „schwarzes Gold“ einen ganz neuen Sinn verleihen.
Welche Nachhaltigkeitsziele verfolgt die Reifenindustrie? Michelin und Continental geben die gleiche Antwort: Bis 2050 wollen sie ihre Reifen zu 100 Prozent entweder aus naturbasierten Materialien oder Recycling-Rohstoffen herstellen. Continental setzt zudem auf die Runderneuerung von Reifen – sie ist im Lkw-Bereich bereits verbreitet, spielt bei den Pkws jedoch noch kaum eine Rolle. Das Verfahren, bei dem die Lauffläche erneuert wird, verschlingt bis zu 70 Prozent weniger Energie als die Fertigung eines neuen Reifens. Nachhaltigkeit kann manchmal verblüffend einfach sein.
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Cyrille Roget
Der studierte Luft- und Raumfahrttechniker ging 2004 zu Michelin North America, wo er Reifen für Flugzeuge entwickelte. Verschiedene Stationen im Unternehmen folgten. Seit 2016 fungiert Cyrill Roget als Kommunikationsdirektor von Michelin für Technik und Wissenschaft.
Janine Korduan
Als Expertin für Kreislaufwirtschaft beim BUND sieht Janine Korduan die Automobil- und Reifenbranche generell kritisch: Reifenabrieb belastet die Umwelt, Kautschukplantagen schaffen ökologische und soziale Probleme, sagt sie. Ihre Folgerung: „Es gibt nur eine Lösung – eine echte Mobilitätswende.“