Nicht jede*r steigt gerne in die Achterbahn, denn das erträgliche Maß an Aufregung und Stress ist individuell. Auf dem Rummel hat man noch die Wahl, während im Straßenverkehr vielerorts das Wohlbefinden der Radfahrenden von anderen Verkehrsteilnehmenden abhängt. Vor allem dort, wo Autos nur wenig Platz zum Überholen haben, es aber dennoch tun. Zwar gilt seit einiger Zeit ein Mindestabstand von 1,5 Metern, doch eingehalten wird er nicht immer. Kontrollen durch die Polizei sind aufwändig und selten, standardisierte Messungen nicht möglich – entsprechend gering ist der Kontrolldruck und häufig fragwürdige Überholmanöver.

Mit schwerwiegenden Folgen für die Attraktivität des Radfahrens: „Wir wissen aus ungezählten Rückmeldungen von Mitgliedern, dass es Radfahrende ungeheuer stresst, wenn sie von Autofahrenden zu eng überholt werden. Und wir wissen aus Studien, dass solche Stresserfahrungen viele Menschen ganz vom Radfahren abhalten“, sagt Stephanie Krone vom ADFC. Um entsprechende Abschnitte eindeutig identifizieren und im Idealfall anpassen zu können, um das Radfahren entspannter und damit attraktiver zu machen, sammeln viele Radfahrende Daten – mit dem OpenBikeSensor.

Der OpenBikeSensor misst den Abstand zu überholenden Fahrzeugen

Der kleine Kasten an der Sattelstange misst per Infrarot die seitliche Distanz zu überholenden Fahrzeugen, versieht die Messung mit einer GPS-Marke und speichert sie. Die lassen sich dann mit wenigen Handgriffen über das Smartphone an entsprechender Stelle im Netz hochladen und auswerten.

Etwa 500 bis 1.000 Geräte seien mittlerweile bundesweit im Einsatz, schätzt Thomas Obst aus Freiburg. Er muss es wissen, denn die massenweise Verbreitung des Geräts und die Community, die sich um das Open-Source-Projekt kümmert, ist auch ihm und seiner Initiative im Stuttgarter Zweirat zu verdanken. Obst arbeitet im Höchstleistungsrechenzentrum der Uni Stuttgart und hörte erstmals 2018 vom „Radmesser„, der damals in Berlin mit seinen Abstandsmessungen von sich reden machte. Obst wollte auch so ein Gerät haben und begann im Herbst 2018, selbst einen zu bauen – quelloffen, damit er viele Nachahmer findet.

Seine Motivation: „In Stuttgart musste ich damals mehrmals wöchentlich mit dem Rad durch den Stadtteil Kaltental fahren. Bergauf, in der Mitte baulich getrennt die Straßenbahn, rechts parkende Autos, ich auf einem Schutzstreifen – und links immer wieder viel zu knapp überholende Autos.“ Dabei ist dort eigentlich gar kein Platz zum Überholen – was seinerzeit anschaulich mit Kreide auf der Fahrbahn anonym erklärt wurde. Maximaler Stress, manchmal mit Kind im Fahrrad-Anhänger. Kaum auszuhalten.

In Workshops werden die Fahrradsensoren gemeinschaftlich gebaut

Im Frühling 2019 war der Prototyp fertig. Materialpreis etwa 25 Euro. Im Sommer 2019 folgte der erste Workshop, bei dem zehn weitere Geräte entstehen. Heute gehören Dutzende Entwickler, Ingenieure und weitere engagierte Radfahrende zur OpenBikeSensor Community, die „maßgeblich für die erfolgreiche Weiterentwicklung sind“, sagt Obst. Die Bauanleitung ist im Netz für jeden zugänglich.

Schnell erkannte er, dass eine Datenbank mit möglichst vielen Messungen ein Instrument dafür sein kann, die Stellen zu finden, an denen die Infrastruktur Stress und Gefahr für Radfahrende darstellt. Inzwischen finden sich neben interessierten Radfahrenden auch immer mehr Forschungseinrichtungen und Kommunen, die entsprechende Daten erheben wollen: Im Projekt gÜ-Rad (gÜ = gesetzlicher Überholabstand) etwa rüsten zehn Kommunen in Baden-Württemberg Fahrräder mit Sensoren aus, ähnliches läuft in Winnenden und der Region Hannover, wo auf Grundlage der erhobenen Messungen die vorhandene Radinfrastruktur verbessert werden soll. Bei einem verwandten Forschungsprojekt an der Technischen Hochschule Ulm wird neben dem Abstand auch die Geschwindigkeit des überholenden Fahrzeugs gemessen.

„Wir wollen Kommunen in die Lage versetzen, ihre Infrastruktur besser zu planen“

Thomas Obst

Der Wille der Kommunen zu Veränderungen pro Rad ist ernst zu nehmen, sagt Jochen Eckart, der die Professur für Verkehrsökologie an der Hochschule Karlsruhe innehat: „Viele von Ihnen haben erkannt, sich dieses Problem annehmen zu müssen“, sagt er. Er und seine Mitarbeiter*innen begleiten das Projekt gÜ-Rad maßgeblich. Während sich die teilnehmenden Kommunen individuelle Verbesserungen versprechen, wollen Eckart und sein Team aus den Messungen in Kombination mit den Gegebenheiten vor Ort im Idealfall allgemeine Aussagen ableiten, zum Beispiel welche Straßen-Querschnitte zu weniger gefährlichen Überholvorgängen führen. „So wollen wir die Kommunen ganz allgemein in die Lage versetzen, ihre Infrastruktur besser zu planen, ohne dass es jedes Mal individuelle Erhebungen geben muss“, sagt Eckart. Wichtig sei es dabei, auch die Messungen mit hinreichendem Abstand einzubeziehen, um die wahren Schwachstellen ausfindig machen zu können.

Gemessen an der kurzen Existenz des Sensors ein bisher gewaltiges Echo. Einer noch schnelleren Verbreitung des Sensors steht nur eines im Weg: Das Auftreiben der nötigen Materialien und deren Zusammenbau. Das Gehäuse muss ein 3D-Drucker herstellen, die Bauteile kommen aus Kostengründen aus China – in nicht immer ausreichender Qualität. Auch der Zusammenbau sei nicht trivial und nehme einen oder auch zwei Tage in Anspruch. Alles in allem also nicht so einfach, gibt auch Thomas Obst zu. 

Early adopter: Workshop-Teilnehmer Markus Jaschinsky sammelt seit Anfang 2021 Daten auf Hamburgs Straßen

Das ist auch die Rückmeldung aus den Workshops, die ehrenamtlich in ganz Deutschland stattfinden – wie etwa im September in der Hamburger Welcome Werkstatt, die ihre Räume und Werkzeuge zur Verfügung gestellt hat. Nach einem ganzen Sonntag sind sechs von neun Bausätzen komplett montiert und funktionsfähig. „Das ist eine tolle Erfolgsquote, die uns sehr freut, aber auch etwas überrascht hat“, sagt Andrea Kupke. Als Mitglied des ADFC Hamburg und des Trägervereins der Werkstatt hat sie bereits mehrere solcher Sessions begleitet. Der eine oder andere Teilnehmer gelangt an jenem Tag zu der Erkenntnis, dass nur der Wille, einen Sensor zu haben, nicht hinreichend ist. 

Auch in Brandenburg hätten nicht auf Anhieb alle Sensoren sofort funktioniert, berichtet Zoe Ingram von der TU Wildau in Brandenburg. Im Rahmen des Citizen Science Projekts namens „Zu nah? – Mit Abstand mehr Sicherheit!“ haben sie und ihr Team den Sensor bekannt gemacht und den Bau von insgesamt 50 Geräten in mehreren Workshops organisiert. Mittlerweile seien so bereits mehr als 10.000 Messungen zusammengekommen. Daten aus der Crowd, Wissenschaft mit Bürgerbeteiligung, die gute Chancen hat, auch dort Einfluss auf die vorhandene Radinfrastruktur zu nehmen. Und mit Blick auf die Karte des OpenBikeSensor-Verbreitungsgebietes wahrscheinlich bald auch anderenorts.

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Zoe Ingram

Zoe Ingram

Zoe Ingram organisierte mit ihrem Team der Technischen Hochschule Wildau das Citizen Science Projekt „Zu Nah? Mit Abstand mehr Sicherheit“. Mit durchschlagendem Erfolg: Nach mehreren Workshops sind inzwischen rund 50 Sensoren in Brandenburg unterwegs. Partner des Projekts ist der ADFC Brandenburg.

Thomas Obst

Thomas Obst

Der Luft- und Raumfahrttechniker Thomas Obst arbeitet am Höchstleistungsrechenzentrum der Uni Stuttgart und gilt als Vater des OpenBikeSensors. Mittlerweile wohnt er nicht mehr in Stuttgart, sondern in Freiburg, das er wegen seiner Fahrrad-Freundlichkeit sehr zu schätzen weiß.