Wie Einkommensarme das 9-Euro-Ticket nutzen
Die Debatte um die 9-Euro-Ticket-Nachfolge konzentriert sich auf Pkw-Besitzende. Dabei profitieren Einkommensarme viel mehr von einem billigen ÖPNV. Wie genau, das zeigt eine Umfrage aus Hamburg
Am Montag hat der Hamburger Verkehrsverbund (HVV) neue Zahlen zum 9-Euro-Ticket veröffentlicht. Demnach wurden in den Monaten Juni, Juli und August 3,5 Millionen Fahrkarten verkauft. Rechnet man die Abokund:innen hinzu, die in diesem Zeitraum ebenfalls nur 9 Euro zahlen mussten, hätten 5,5 Millionen Menschen vom 9-Euro-Ticket profitiert. Eine ansehnliche Zahl. Spannender als die absoluten Zahlen sind allerdings die Ergebnisse der Marktforschung, die der HVV ebenfalls am Montag publik gemacht hat.
Der Markforschung zufolge haben etwas mehr als die Hälfte der Ticket-Besitzer:innen ihr Auto in den vergangen drei Monaten häufiger stehen gelassen. Ohne 9-Euro-Ticket wäre für 12,3 Prozent der Fahrten statt Bus und Bahn der Pkw genutzt worden, heißt es. Mit 15 Prozent liege dieser Wert außerhalb der Stadt sogar höher als in Hamburg selbst (11 Prozent). Was aus den veröffentlichten Ergebnissen der Marktforschung leider nicht hervorgeht: Wie viele Menschen dank 9-Euro-Ticket das Fahrrad stehen lassen konnten oder endlich einmal nicht zu Fuß gehen mussten.
„Einzel- oder Tageskarten, um finanziell flexibel zu bleiben“
Aus dem Zwischenbericht der TUHH
Für einkommensarme Menschen stellt sich nämlich in der Regel nicht die Frage, ob sie das Auto mal stehen lassen. Wenn sie schnell von A nach B kommen wollen, sind sie auf den ÖPNV angewiesen. Zugleich sieht sich ein Teil der Angehörigen dieser Zielgruppe nicht in der Lage, speziell für sie gestaltete Ermäßigungen in Anspruch zu nehmen. „Für Einkommensarme (ist) im HVV der Bartarif besonders wichtig. Um finanziell flexibel zu bleiben, nutzen viele die Einzel- oder Tageskarten.“
Diese Beobachtung stellen die Autor:innen einer laufenden Befragung zur Nutzung des 9-Euro-Tickets durch einkommensarme Bewohner:innen des HVV-Gebiets voran. Ein Zwischenbericht liegt FUTURE MOVES vor. Wissenschaftler:innen um den Mobilitätsforscher Christoph Aberle von der Technischen Universität Hamburg (TUHH) sprechen aktuell mit 25 einkommensarmen Personen darüber, wie sie das Ticket nutzen. Das Ziel sind Handlungsempfehlungen für den HVV, der die Befragung unterstützt, sowie Impulse für die Politik, die sich noch immer mitten in einer Diskussion um eine Nachfolgeregelung für das 9-Euro-Ticket befindet.
„Das 9-Euro-Ticket brachte die unbekannte Freiheit, sich souverän über das Nahumfeld hinaus zu bewegen“, schreiben die Wissenschaftler:innen in ihrem Zwischenbericht. Sie zitieren darin etwa den Vater einer elfjährigen Tochter, der von Hartz IV lebt und das Ticket „ordentlich ausgenutzt“ habe. Der Mann berichtet von mehreren Ausflügen, unter anderem an die Nord- und Ostsee, die er mit einem anderen Ticket nicht gemacht hätte. Dabei decke sich der Anteil derjenigen, die das 9-Euro-Ticket für überregionale Reisen nuten, in ihrer Stichprobe mit den vier Prozent im Schnitt aller HVV-Nutzenden, so die Autor:innen.
„Endlich kann ich meine Enkelkinder öfter mal sehen“
Rentnerin, die von Grundsicherung lebt
Der Hauptnutzen und letztlich auch größte Mehrwert für Einkommensarme liege in der gesteigerten Alltagsmobilität, so die Wissenschaftler:innen. „Viele setzten das 9-Euro-Ticket ein, um Alltagswege zu bewältigen bzw. bereits bekannte Ziele öfter zu erreichen.“ Sie zitieren eine auf Grundsicherung angewiesenen Rentnerin, die vorher für jeden Besuch ihrer Familie 16 Euro für eine Hin- und Rückfahrkarte abgeben musste. „Jetzt freue ich mich natürlich. Endlich kann ich meine Enkelkinder öfter mal sehen.“ Der bereits zitierte Vater sagte: „Wo ich hinfahren kann, fahre ich natürlich jetzt hin.“ So nutze er aktuell das 9-Euro-Ticket für regelmäßige Fahrten ins Krankenhaus. Bislang hätte er diese Strecke mit dem Rad zurückgelegt.
Die Autor:innen der Befragung folgern darum: „Was als Entlastung für alle geplant war, kam besonders denjenigen zugute, die unter finanziellem Druck stehen: vielen Menschen in Armut, Alleinerziehenden, Geringverdiener*innen und anderen Personen in prekären Lebenslagen.“ Diesen Menschen habe das 9-Euro-Ticket „einen enormen Gewinn an Teilhabechancen“ gewährt.
Interessant an den Zwischenergebnissen sind die Aussagen zur Preisgestaltung eines Folgeangebots. Demnach wären die meisten der Befragten bereit, dafür einen höheren Preis zu zahlen – zwischen 20 und 30 Euro pro Monat. In dieser Größenordnung bewegt sich mit 27,50 Euro aktuell bereits das Berliner Sozialticket, wie die Autor:innen anmerken. Auch in Hamburg gebe es die Option einer vergünstigten Monatskarte für 31,90 Euro. Dies ist allerdings nur zu bestimmten Tageszeiten gültig und zu diesem Preis nur im Abo erhältlich.
Dass es sich lohnt über spezielle Angebote für Einkommensarme nachzudenken, bestätigt auch eine repräsentative Umfrage des Bayerischen Rundfunks. Die hat ergeben, dass das 9-Euro-Ticket neben Ballungsräumen vor allem in Regionen mit schwacher Kaufkraft nachgefragt gewesen sei. Und tatsächlich haben erste Kommunen und ÖPNV-Anbieter bereits verbesserte Angebote für Zielgruppen in prekären Lagen angekündigt. Die Stadtwerke Bonn werden ab dem 1. September ein – allerdings auf das Stadtgebiet beschränktes – 19-Euro-Ticket anbieten. Auch für Berlin wurde für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2022 ein Folgeangebot zum 9-Euro-Ticket angekündigt. Wobei noch offen ist, was dieses Kosten wird und wo genau es gelten soll.
Want to know more?
Christoph Aberle
Als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Verkehrsplanung und Logistik der Technischen Universität Hamburg (TUHH) befasst sich Christoph Aberle mit Fragen des Zusammenhangs von Mobilität und sozialer Gerechtigkeit sowie Strategiethemen im Bereich des Öffentlichen Personennahverkehrs.
Anna-Theresa Korbutt
„Immer mehr Menschen sind bereit, ihr Mobilitätsverhalten zu ändern (…) und den Pkw stehen zu lassen – wenn Angebot und Preisgestaltung stimmen“, sagt HVV-Chefin Anna-Theresa Korbutt. Mit einem 5er-Tagesticket sollen jetzt Gelegenheitspendler gewonnen werden. Ein flexibles und dabei billiges Sozialticket bleibt zunächst noch To-Do.