Seit Montag kursiert auf Twitter ein kleines Video. Darin ist eine ziemlich aufgebrachte Radfahrerin zu sehen, die auf der Fahrbahn steht und eine SUV-Fahrerin an der Weiterfahrt hindert. Oder ist es umkehrt? Genau um diese Frage geht es nämlich in der dreieinhalb Minuten langen Szene, die die Autofahrerin mit ihrem Smartphone mitgeschnitten, während sie selbst ebenfalls von der Radlerin gefilmt wurde.  

Die Radfahrerin verlangt, dass die Frau im Pkw ihr Platz macht, weil schließlich deren eigentliche Fahrbahn durch parkende Autos blockiert ist. Die Autofahrerin wiederum will, dass die Radlerin ihr über eine freie Parklücke links neben dem SUV ausweicht. Die Radlerin verlangt ihr Recht, die Pkw-Fahrerin bleibt stur. Am Ende eskaliert die Lage. „Deutschland in einem Video“, kommentierte der User, der den Clip hochgeladen hat und bei dem es sich offensichtlich um den Beifahrer handelt. Wie Recht er hat.

Ganz gleich, auf wessen Seite man sich hier schlagen möchte. Das Video ist repräsentativ für Deutschland – und Mobilität in Deutschland im Besonderen –, weil es ein strukturelles Problem offenbart. Wenn es darum geht, ein (vermeintliches) Recht durchzusetzen oder zu verteidigen, dann bringen die Menschen eine erstaunliche Energie auf. Sei es in den Tausenden tagtäglichen Konflikten auf deutschen Straßen. Oder auch in den Kommentarspalten bei Twitter.     

Welche*r Bürgermeister*in will schon über einen fahrradfeindlichen Mobilitätsmoloch herrschen?

Wenn es jedoch darum geht, sich für eine konstruktive Veränderung festgefahrener Verhältnisse zu engagieren, dann ist wenig zu sehen, von solcher Leidenschaft. Beispielsweise beim Thema Infrastruktur, die ja immer wieder ursächlich ist für die diversen kleinen und großen Konflikte der Verkehrsteilnehmer*innen. Dabei könnten sich vermutlich sogar sämtliche Protagonist*innen des Twitter-Videos darauf einigen, dass hier beim Thema Fahrrad in Deutschland einiges (sic!) ausbaufähig ist. 

Ich-nein-ich-nein-ich: Die Realität auf deutschen Straßen. Szene aus dem Twitter-Clip

Wie es der Zufall will, böte sich dazu aktuell sogar die perfekte Möglichkeit. Bis diesen Mittwoch einschließlich befragt der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) im Rahmen seines Fahrradklima-Tests wieder einmal alle Menschen in Deutschland nach der Fahrradfreundlichkeit ihres Wohnorts. Mit einem Bruchteil der Zeit, die in den sozialen Medien für fruchtlose Wer-hat-Recht-Debatten verschleudert wird, kann hier jede*r hier seine Stadt bewerten und so eine Grundlage für künftige Debatten mit der lokalen Politik schaffen. Und wenn genügend mitmachen, könnten die Ergebnisse dann mal wirklich etwas bewirken.

Anfang der Woche hat der ADFC eine Tabelle mit dem Zwischenstand der eingegangenen Fragebögen veröffentlicht. Demzufolge haben mittlerweile rund 230.000 Personen beim Fahrradklima-Test mitgemacht. So imposant sich die Zahl zunächst anhört, tatsächlich ist sie bedauernswert niedrig. Denn aus der Tabelle geht neben der absoluten Zahl der Teilnehmenden auch der relative Anteil an der Bevölkerung der jeweiligen Gemeinden hervor. 

In kleinen Orten, vor allem wenn diese nicht im Einzugsbereich einer Großstadt liegen, sind es oft nur ein oder zwei Personen, die den Test gemacht haben. Und selbst in den Metropolen sind die Zahlen der Teilnehmenden bescheiden. Für Hamburg etwa sind rund 4.000 Fragebögen eingegangen. Umgerechnet auf 10.000 Bewohner*innen der Hansestadt sind das gerade einmal 21. In Berlin liegt der Wert sogar bei 18, in München mit 26 nur unwesentlich darüber. Sogar in der viel besungenen Fahrradstadt Münster haben mit 81 je 10.000 nicht einmal ein Prozent der Einwohner*innen mitgemacht. 

Dass die geringe Teilnahme in hoher Zufriedenheit mit dem Status Quo begründet liegt, ist eher nicht anzunehmen. Die Liste der To-dos ins Sachen urbane Radwende ist lang, wie Hamburgs Senator für Verkehr und Mobilitätswende Anjes Tjarks erst neulich im FUTURE MOVES Podcast bestätigt hat. Und alle, die zumindest gelegentlich mit dem Fahrrad unterwegs sind, wissen um die vielen Baustellen, von denen man sich wünscht, sie würden sich endlich vom sprachlichen Bild zur physischen Realität manifestieren. Ein Platz im ADFC-Ranking – vor allem auf den hinteren Plätzen – kann hier der Hebel sein. Denn welche*r Bürgermeister*in will in Zeiten der Verkehrswende schon über einen im verkehrspolitischen Gestern stecken gebliebenen Mobilitätsmoloch herrschen? 

„Wir haben nicht so viel Zeit“, sagt der SUV-Beifahrer im eingangs erwähnten Video, um die Radfahrerin dazu zu bewegen Platz zu machen. Die aber denkt gar nicht daran. Sie verharrt auf ihrer Position und entgegnet: „Ich habe Zeit ohne Ende.“ Wie falsch sie damit liegt.

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Anjes Tjarks

Anjes Tjarks

Hamburgs Senator für Verkehr und Mobilitätswende ist selbst passionierter Radler und fährt sogar zu Terminen jenseits der Elbe auf seinem Bike. Wie er Hamburg zur fahrradgerechten Stadt umbauen will, hat er kürzlich im FUTURE MOVES Podcast erklärt.

Stephanie Krone

Stephanie Krone

Die Sprecherin des ADFC ist eine der weit gehörten und zugleich konstruktiven Stimmen der Fahrrad-Bubble auf Twitter. Wie sie sich eine Zukunft nach der Radwende vorstellt, dass hat Stephanie Krone bereits im FAQ-Format von FUTURE MOVES verraten.