Einsteigen, zurücklehnen, stressfrei zum gewünschten Ziel gefahren werden und dabei noch die Präsentation fürs Meeting vorbereiten oder ein Buch lesen – dieses Bild der Zukunft malt Waymo, Alphabets Tochterunternehmen, das „autonomous vehicles“ (AV) entwickelt. Perfekt aufeinander abgestimmt und ohne Fahrer:in hinter dem Lenkrad bewegen sich die weißen Minivans in dieser Vision über die Straßen von San Francisco. Bald wird das mehr als eine Vision sein. Selbstfahrende Autos sind auf dem Weg von Science-Fiction zu alltäglicher Realität zu werden.

Auf einigen Straßen in den USA, wo Waymo seine Flotte bereits testet, kann man diese Zukunft bereits erleben. Und in Deutschland gilt seit Juli 2021 ein Gesetz zum au­tonomen Fahren, das den rechtlichen Rahmen schafft, damit man sich künftig auf bestimmten Strecken entspannt und ohne eigenes Zutun zum Ziel kutschieren lassen kann. Doch während sich die AV-Nutzer:innen zurücklehnen dürfen, könnte die KI am Steuer für die restlichen Verkehrsteilnehmer:innen eher den gegenteiligen Effekt haben. Denn Mensch und Maschine haben oft eine unterschiedliche Vorstellung, wie man sich im Straßenverkehr richtig verhält.

Auch wenn es auf deutschen Straßen an sich meist ruhig und bedacht zugeht, kommt es hinter dem Lenkrad vermehrt zu starken Emotionen. Laut TÜV Mobility Studie 2020 nehmen zwei von drei Deutschen ein gestiegenes Aggressionslevel im Straßenverkehr wahr. Das Thema wird also immer relevanter, was man auch bei der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie (DGVP) so sieht, die im Oktober 2020 ein Positionspapier zu Aggressionen im Straßenverkehr veröffentlicht hat.

Diese würden häufig reaktiv entstehen, heißt es dort. Etwa wenn der Fahrer bei dem Erreichen eines für ihn wichtigen Ziels behindert wird. Aus dieser Behinderung folge dann Frustration, die sich als Aggression gegen die Blockade richten kann, schreibt die DGVP in ihrem Papier. Ein langsam fahrendes Auto, das sich penibel an die Verkehrsregeln hält, kann als solch eine Blockade wahrgenommen werden.

„Autonome Fahrzeuge werden sich vorsichtiger verhalten als Menschen“

Berthold Färber

Denkt man zurück an die AVs, ist schon eine vermeintliche Verkehrsbehinderung gefunden. Rein technisch ist es den computergesteuerten Fahrzeugen nicht möglich, was menschliche Fahrer permanent tun und das darum als normales Verhalten empfunden wird: Geschwindigkeitsgrenzen zu überschreiten oder die Verkehrsregeln zu missachten. Teilweise nehmen die AVs diese Aufgabe sogar etwas zu ernst, wie der Tesla, der im Angesicht eines auf eine Reklametafel gedruckten Stoppschilds anhielt.

Die Fahrzeuge von Tesla waren eine der ersten mit hoher Automatisierung. Unfälle aufgrund des Autopilots gab es jedoch auch schon.

„Autonome Fahrzeuge werden sich primär vorsichtiger verhalten als menschliche Autofahrer, da sie wenig Wissen über den Kontext und informelle Zeichen besitzen.“ Das stellte der Arbeitswissenschaftler Berthold Färber bereits 2015 fest. Eine Annahme, die viele Tesla-Fahrer:innen mittlerweile bestätigen können. Das deutsche Gesetz schreibt sogar vor, dass sich AVs selbst in einen „risikominimalen Zustand“ versetzen müssen, ehe sie Verkehrsregeln brechen. In der Praxis dürfte das heißen: im Zweifel lieber anhalten. Vor allem jedoch wird kein dichtes Auffahren oder Gehupe die KI dazu bewegen, auch nur ein km/h schneller zu fahren als erlaubt. Das wiederum könnte zu Ärger, Wut und Aggressionen bei Drängler:innen führen.

Don DeVol ist Psychologe und seit 2004 Leiter des Institutes für Verkehrssicherheit für den TÜV Thüringen sowie Mitglied im Fachausschuss „Begutachtung der Fahreignung“ der Bundesanstalt für Straßenwesen. Er hat das Positionspapier der DGVP mitgeschrieben und kennt sich mit dem Verhalten von Autofahrer:innen aus. Ob AVs im Straßenverkehr zu mehr Aggressionen führen ist auch für DeVol bislang nur eine Prognose, keine genaue Feststellung. Denn aktuell gibt es weder AVs auf den Straßen, noch genaue Studien zu deren Integration im Straßenverkehr.

Wichtig für die Bewertung dieser Frage sei die Unterscheidung zwischen Wut und Ärger, erklärt DeVol, denn „vor dem Verhalten, also den Aggressionen, kommen immer die Emotionen, also beispielsweise das Gefühl der Wut.“ Zudem brauche es für ein aggressives Verhalten auch eine:n Gegenspieler:in, ein Subjekt mit dem man sich auseinandersetzen kann. Gibt es das Subjekt nicht, dann „wird es diese klassische Form des aggressiven Verhaltens nicht geben“, sagt DeVol. Dagegen könnte man einwenden, dass Menschen durchaus aggressives Verhalten gegenüber Computern und Objekten zeigen, wenn sie diese als unkooperativ oder störend empfinden. Videos, in denen die Zerstörungswut gegen moderne Rechenmaschinen deutlich wird, sind ein Internet-Klassiker.

Folgt man DeVols Überlegungen, macht es einen Unterschied, um welches Level des autonomen Fahrens es geht. Ist das Fahrzeug vollständig autonom, muss keine Person mehr hinter dem Lenkrad sitzen. Fährt das Auto jedoch nur assistiert oder automatisiert, so braucht es weiterhin eine Person am Steuer, die in bestimmten Situationen eingreifen können muss – und somit würde es einen Adressaten für die Wut geben.

„Eine Kennzeichnung von AVs kann negativen Gefühlen entgegenwirken“

Don DeVol, Psychologe

Für die Praxis im Nebeneinander von Mensch und Maschine ist das bisher erreichte Level an Autonomie also vorerst egal: „Bei selbstfahrenden Autos, bei denen der Fahrgast vorne sitzt, um in kritischen Situationen einzugreifen, kann ich als dahinter Fahrender nicht unterscheiden wer fährt“, sagt auch DeVol. Hier könnten die gleichen Phänomene auftreten, die es auch jetzt schon im Straßenverkehr gibt: das Ausbremsen von Fahrzeugen, enges Überholen oder dichtes Auffahren. Anders könnte es sich verhalten, wenn Pkw tatsächlich komplett selbstständig fahren. Bewegt sich das AV sichtbar ohne Fahrer:in, entstehen zwar möglicherweise Emotionen wie Ärger oder Wut, so DeVol, „doch in aggressives Verhalten mündet es nicht, weil es eben keinen Interaktionspartner gibt.“

Es dürfte also helfen, wenn durch eine Kennzeichnung des AVs klar zu erkennen ist, in welchem Grad die Person hinter dem Steuer eingreifen kann. Durch „eine eindeutige und sichtbare Kennzeichnung autonomer Fahrzeuge“ könnte den anderen Verkehrsteilnehmer:innen die Besonderheit der AVs und „ihr abweichendes Verhalten“ deutlich gemacht werden, überlegte Färber. Experte DeVol unterstützte diese Überlegung: „Eine Kennzeichnung von selbstfahrenden Autos ist aus meiner Sicht sinnvoll und würde die Milderung dieser potenziell aufkommenden negativen Gefühle bewirken.“

In der Gesetzesnovelle zum autonomen Fahren in Deutschland findet sich auch eine Passage, die es den Behörden erlaubt, eine Kennzeichnungspflicht anzuordnen. Doch bislang scheint davon noch niemand Gebrauch gemacht zu haben, obwohl dieser Ansatz ein harmonisches Miteinander im Straßenverkehr der Zukunft sichern könnte. Ob die Kennzeichnung bei notorischen Drängler:innen etwas ändern würde, steht auf einem anderen Blatt. Aber die sollten sich dann vielleicht einfach daran erinnern, dass das Fahrzeug vor ihnen nichts anderes tut, als regelkonform unterwegs zu sein.

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Johann Jungwirth

Johann Jungwirth

Der Vice President im Bereich Mobility-as-a-Service (MaaS) des Automobilzulieferer Mobileye arbeitet an selbstfahrenden Autos. Mit denen will Johann Jungwirth die Mobilität sicherer, zugänglicher und bequemer machen. Mobileye, die israelische Tochtergesellschaft des Intel-Konzerns, will 2022 Robotaxis in Tel-Aviv und München auf die Straßen bringen. 

Bryan Salesky

Bryan Salesky

Der ehemalige Google-Mitarbeiter Bryan Salesky gründete gemeinsam mit Peter Rander, ehemals Mitarbeiter von Uber, Argo.ai. Das unabhängige Unternehmen entwickelt Software und Hardware für selbstfahrende Fahrzeuge. Zwei große Investoren des Unternehmens sind die Ford Motor Company und die Volkswagengruppe. Erste Testfahrzeuge sind schon auf den Straßen in München und Hamburg unterwegs.