Vom Carpool-Tool zum Netflix für Pendler:innen
Wie ein Start-up aus Linz das Verhalten von Pendler:innen verändern und Multimodalität zur Routine im Berufsverkehr machen will
Der fatal verstolperte Tankrabatt zeigt einmal mehr: Gerade im Berufsverkehr sind Konzepte überfällig, die dafür sorgen, dass weniger Menschen alleine mit dem Auto zum Job pendeln. Carployee aus Linz setzt hier bei einem Klassiker an: der Fahrgemeinschaft. Ende 2018 launchte das österreichische Start-up seine Carpooling-Plattform. Über die können Kolleg:innen Fahrgemeinschaften finden und erhalten zudem von ihrer Firma Benefits für das umweltschonende Verhalten.
„Grenzgenial!“ Mit diesem Superlativ adelte der Winzer und Wagniskapitalgeber Leo Hillinger das Carployee-Konzept, als die Gründer im Jahr 2020 in der österreichischen Start-up-Show „2 Minuten – 2 Millionen“ auftraten. Seitdem hat sich viel getan. Carployee wurde inzwischen vom US-Mitbewerber Ride Amigos gekauft. Und die Österreicher haben seit wenigen Wochen eine neue App im Angebot. Die geht das Thema Pendeln auf eine noch viel innovativere Weise an und man man könnte sie – Hillinger im Ohr – durchaus als „grenzgenialer“ bezeichnen.
Doch von Anfang an: Rund fünf Jahre ist es her, dass Albert Vogl-Bader und seine Mitgründer auf der Suche nach einer neuen Aufgabe waren. Nach dem Cambridge-Analytica-Skandal hatte Facebook Drittanbietern den Zugang zu bestimmten Daten gekappt und damit auch dem Business ihres damaligen Start-ups den Stecker gezogen – obwohl das alles andere als shady war. Es ging um die Analyse von Engagement bei Freizeitveranstaltungen.
„Corona ist sehr schlimm für uns gewesen“
Albert Vogl-Bader
„Es war immer ein absoluter Wunsch, unsere Software-Kenntnisse für etwas Sinnvolles einzusetzen“, sagt Vogl-Bader. Als IT-Guys mit analytischem Blick und dem Bedürfnis nach steter Optimierung waren ihnen die großen Ineffizienzen im Mobilitätsbereich aufgefallen. Und da sie selbst eine Fahrgemeinschaft bildeten, lag es nahe, bei diesem Thema anzusetzen. Laut einer aktuellen Studie von Agora Verkehrswende ist der Weg zwischen Arbeit und Job in Deutschland für 21 Prozent des gesamten Verkehrs verantwortlich. Und zwei Drittel aller Menschen fahren alleine mit dem Auto zur Arbeit. Nur sechs Prozent sind Mitfahrer:innen. Das Potenzial von Fahrgemeinschaften ist also – nicht nur in Deutschland – immens. Aus dieser Einsicht entstand Carployee.
Die Idee hinter dem Tool: Firmen erwerben Lizenzen für ihre Angestellten. Die nutzen dann die Plattform, um – von der Software assistiert – ideale Fahrgemeinschaften zu bilden. Damit möglichst viele mitmachen, gibt es für abgeschlossene Fahrten Punkte, die von den Teilnehmenden gegen Prämien eingetauscht werden können, die das Unternehmen festlegt. Dem wiederum verspricht Carployee einen positiven Effekt auf das Employer Branding, geringeren Parkplatzbedarf und eine Dokumentation der generierten CO2-Ersparnis für das CSR-Reporting.
Auch wenn Vogl-Bader sagt: „Corona ist sehr schlimm für uns gewesen“, berichtet er zugleich von einem „unglaublichen Wachstum“ außerhalb der Lockdown-Phasen. Zur Zeit würden über ihre Software 50.000 Fahrgemeinschaften organisiert. Und das Interesse an dem Service sei ungebrochen. Das steigende Umweltbewusstsein der Mitarbeitenden sei ein Treiber, so Vogl-Bader. Aber natürlich auch die in den vergangenen Monaten stark gestiegenen Benzin- und Dieselpreise. „Viele sagen, sie möchten nicht mehr arbeiten, um sich die Fahrt zur Arbeit leisten zu können.“
Mit dem neuen Produkt namens Pave Commute, das seit Kurzem sowohl von der österreichischen Tochterfirma Carployee als auch von der US-Mutter Ride Amigos ausgerollt wird,
verfolgen die Linzer jedoch eine weit größere Vision als die Organisation von Fahrgemeinschaften. Mit Pave, wie Vogl-Bader die neue App knapp nennt, will er nicht weniger als Multimodalität zu einer Routine von Berufspendler:innen machen.
„Wir wollen für jede Person den bestmöglichen Transport bereitstellen“, sagt der Carployee-CEO. Und der sei von einer Vielzahl an Datenpunkten abhängig. Neben objektiven Faktoren wie Wohnort, Arbeitsstandort, ungefährer Arbeitszeit, eventueller fester Homeoffice-Tage, fragt Pave auch individuelle Bedürfnisse ab. Etwa wie wichtig den Nutzer:innen Geschwindigkeit oder Flexibilität sind. Abhängig davon empfiehlt die App dann eine Pendelstrecke per Carpooling, ÖPNV, auf dem Rad oder zu Fuß. Die Logik dahinter sei vergleichbar mit den Empfehlungen, die Netflix- oder Amazon-Kund:innen bekommen, so Vogl-Bader.
„Das Ziel ist, dass die Leute Routinen ausbilden“
Albert Vogl-Bader
Wie bei beim ursprünglichen Produkt von Carployee wird umweltschonendes Verhalten durch Belohnungen incentiviert. Ob die Nutzenden den Empfehlungen auch folgen, also tatsächlich das Rad und nicht doch das Auto nutzen, und ob sie im Fall von vorgeschlagenen Fahrgemeinschaften auch wirklich gemeinsam unterwegs sind, das erkennt das Tool über die Smartphone-Sensorik. „Das Ziel ist, dass die Leute Routinen ausbilden“, sagt Vogl-Bader. Und selbst wenn die am Ende dann doch nur darin besteht, dass zwei Leute eine Fahrgemeinschaft bilden. Der Effekt hinsichtlich der CO2-Ersparnis ist gegenüber dem Zustand davor groß.
Wie groß diese genau ist und wie viele der App-Nutzer:innen vom Auto auf Bus und Bahn oder das Rad umgestiegen sind, kann Vogl-Bader derzeit noch nicht beziffern. Dafür sie der Launch noch zu frisch, die Datengrundlage zu dünn. Und noch fehlen Pave die Großkunden, mit denen Skaleneffekte einsetzen. Aktuell werde die App vor allem von kleineren Unternehmen mit 20 bis 50 Mitarbeitenden eingesetzt, so Vogl-Bader. Allerdings kommen jede Woche mindestens ein neues dazu und man stehe in Verhandlungen mit einem größeren Scale-up aus dem Software-Bereich.
Wie bei einer neuen Lösung für ein altes Problem und bei Software überhaupt, gibt es noch jede Menge zu optimieren. „Wir haben den Product-Market-Fit noch nicht erreicht“, sagt Vogl-Bader. Darum gehe es in der derzeitigen Phase neben der Akquise von weiteren Kund:innen vor allem darum, Feedback für Pave zu sammeln und die App auf dieser Basis zu verbessern. „Was Bestand hat, werden wir im Herbst sehen“, so der Carployee-CEO.
Ideen, wie sich Pave weiterentwickeln ließe, haben Vogl-Bader und seine Mitgründer genug. Denkbar sei etwa, die Belegschaften benachbarte Unternehmen in der App zusammenführen. Oder nach einer Hop-on-Hop-off-Logik Firmen zu integrieren, die entlang bestehender Pendelströme liegen. Pave könnte an Kommunen lizensiert werden, die die App dann den Bewohner:innen ihrer Stadt zur Verfügung stellen. Konkrete Pläne dazu gebe es noch keine, sagt Vogl-Bader. Aber zufälligerweise ist exakt das das Business, mit dem die Carployee-Mutter Ride Amigos seit Jahren ihr Geld verdient.
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Albert Vogl-Bader
Carployee ist bereits das dritte Start-up, das der Österreicher Albert Vogl-Bader in den vergangenen zehn Jahren mit ins Leben gerufen hat. Noch länger kennt er seine Mitgründer Moritz Wenko und Gernot Panholzer. Die drei sind gemeinsam zur Schule gegangen.
Nora Grazzini
Die Kölnerin Nora Grazzini startete 2019 die App Radbonus, deren User sich Gutscheine für Partner-Shops erradeln können. Nach einem ähnlichem Prinzip funktionieren auch die Apps Sweatcoins und Step’n für Fußgänger:innen, beziehungsweise Jogger:innen.