Für mehr Gleichberechtigung bei Autounfällen
THOR-5F ist nur 1,51 Meter groß und wiegt noch nicht mal 48 Kilogramm. Der neue Crashtest-Dummy soll ein altes Problem lösen: Bei einem Unfall erleiden Frauen im Auto schwerere Verletzungen als Männer. Warum das so ist und wie man das ändern kann, erläutert Thomas Kinsky vom Dummy-Hersteller Humanetics im Gespräch mit FUTURE MOVES
Bei Unfällen werden Frauen im Auto mit 47-prozentiger Wahrscheinlichkeit schwerer verletzt als Männer. Das steht in einem EU-Bericht aus dem Jahr 2013; die US-amerikanische Sicherheitsbehörde NHTSA nannte im selben Jahr drastisch erhöhte Verletzungsrisiken für Nacken, Arme und Beine. Ein Grund dafür ist die Auswahl der Dummys, mit denen die Autohersteller ihre Crashtest fahren: Der Typ, der am häufigsten im Einsatz ist, entspricht weitgehend einem durchschnittlichen Mann.
Humanetics aus Michigan/USA, der global führende Dummy-Hersteller, will die Welt der Messpuppen weiblicher machen. Vor vier Jahren hat er THOR-5F vorgestellt – einen so genannten Fünf-Perzentil-Dummy, der einer klein gewachsenen Frau von 1,51 Meter Größe und 48 Kilo Gewicht entspricht. THOR steht für „Test Device for Human Occupant Restraint“, 5F bedeutet, dass nur fünf Prozent der Frauen weltweit kleiner sind. Thomas Kinsky aus der Europa-Zentrale von Humanetics in Heidelberg war für die Markteinführung verantwortlich.
„Unser Ziel ist es, Leben zu retten und die Schwere von Verletzungen zu mindern“
Thomas Kinsky, Humanetics Europe GmbH
Hallo Herr Kinsky, ist THOR-5F eigentlich eine Sie oder ein Er?
Thomas Kinsky: Das sehen wir im Team unterschiedlich. Einige Kollegen betrachten Thor-5F als Frau. Für mich handelt es sich strikt ein Objekt, um eine Messpuppe mit etwa 150 Sensoren. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, dass ein Dummy, den man für einen Crash ins Auto setzt, einen menschlichen Charakter hat.
Warum eigentlich haben Sie einen völlig neuen 5-Perzentil-Dummy entwickelt? Es gab doch schon einen.
Thomas Kinsky: Ja, es gibt einen kleinen Dummy aus der Hybrid-III-Familie, die in den 1970er und 1980er Jahren entwickelt worden ist. Aber er ist im Wesentlichen nur eine verkleinerte Version des 50-Perzentil-Dummys – der ist 1,75 Meter groß, und sein Körperbau orientiert sich an Männern. Bei uns Menschen aber gibt es nun mal große Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Frauen haben in der Regel schmalere Schultern und ein breiteres Becken, die Brüste nehmen auf den Verlauf des Sicherheitsgurts Einfluss. Die Muskelmasse ist geringer, die Gelenke sind filigraner und die Knochen schwächer.
Klingt einleuchtend. Gibt es weitere Gründe für das hohe Verletzungsrisiko von Frauen?
Thomas Kinsky: Die meisten Frauen sitzen aufgrund ihrer geringeren Größe anders im Auto als Männer –aufrechter und näher am Lenkrad beziehungsweise an der Armaturentafel. Bei einem Frontalcrash wird der Kopf besonders hart vom Airbag getroffen. Das gilt vor allem für ältere Autos, bei denen die Rück-
haltesysteme häufig zu rigide ausgelegt sind.
Haben Frauen im Auto ein höheres Todesrisiko als Männer?
Thomas Kinsky: Nein, das sagen die Statistiken nicht unbedingt aus. Und glücklicherweise geht die absolute Zahl der Getöteten im Straßenverkehr stark zurück, in Deutschland 2021 auf den niedrigsten Stand seit über 60 Jahren. Wir konzentrieren uns heute in der Dummy-Entwicklung verstärkt darauf, die Schwere von Verletzungen zu mindern, indem wir die Anatomie des Menschen immer genauer nachbilden. Bei den Armen und Beinen sind weniger die Knochen das Problem, die kann man zur Not eingipsen. Auf längere Sicht sind die Gelenke kritischer – und da weiß ich, wovon ich rede. Vor fast 40 Jahren habe ich mir bei einem Motorradunfall die Schulter ausgekugelt, das macht mir heute noch Probleme.
Die Menschen haben sich über die Jahrzehnte hinweg verändert, sie sind größer und schwerer geworden. Müssten Sie nicht eigentlich eine ganz neue Generation Dummys entwickeln?
Thomas Kinsky: Das tun wir auch. Wir haben einen 125 Kilo schweren THOR-Dummy konzipiert, der einen adipösen 95-Perzentil-Mann darstellt. Und wir haben einen Dummy, der eine ältere Frau mit geschwächten Knochen repräsentiert. Viele Autohersteller und große Zulieferer schauen sich die schon sehr genau an.
Aber noch arbeiten die mit den alten Hybrid-III-Dummys …
Thomas Kinsky: … die eine große Familie mit Frauen, Männern und Kindern bilden und auf den Frontalaufprall spezialisiert sind. Dafür gibt es drei Gründe: Erstens haben Dummys praktisch das ewige Leben – man kann eigentlich jedes Teil erneuern, wenn es einmal kaputt geht. Zweitens wollen unsere Kunden ihre Messdaten rückblickend vergleichen können. Und drittens haben die Gesetzgeber bislang davon abgesehen, den Einsatz der neuen Dummys verpflichtend vorzuschreiben.
Wann werden Sie und die Autohersteller komplett auf virtuelle Dummys umstellen?
Thomas Kinsky: Davon sind wir sicher noch zehn oder 20 Jahre entfernt, obwohl es von jedem Dummy schon heute einen virtuellen Zwilling gibt. Physische Tests braucht man schon mal, um die Simulationsresultate zu validieren. Und ich persönlich fände es auch gefährlich, wenn Crashtests in Zukunft nur noch wie eine Art Computerspiel betrachten werden würden. Erst wenn man ein reales Crashauto sieht, bekommt man ein Gespür dafür, welche Kräfte da wirken.
Wenn Sie ein Dummy wären, Herr Kinsky – welcher Typ wären Sie dann?
Thomas Kinsky: Ich bin eher der 95-Perzentil-Mann…. oder sogar noch ein klein wenig mehr. Auch deswegen möchte ich hier noch einen Appell loswerden: Es ist gut und wichtig, dass wir uns Gedanken machen, wie wir kleine und leichte Frauen besser schützen können – vor allem, wenn die Frauen sich heute nicht angemessen berücksichtigt fühlen. Aber wir sollten uns nicht einseitig darauf fokussieren, wir müssen auch an die sehr großen und schweren Insassen denken. Der ganze Komplex von Entwicklung, Tests und Auslegung der Rückhaltesysteme ist sehr sensibel – wenn man ein Schräubchen in die falsche Richtung dreht, kann die Balance schnell verloren gehen. Und davon hätte niemand etwas.
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Thomas Kinsky
Thomas Kinsky arbeitet bei der Humanetics Europe GmbH in Heidelberg als Director of Business Development und ist weltweit in die Konzeption und Markteinführung von Dummys der nächsten Generation eingebunden. Er studierte in Dresden und Graz; 2018 wechselte er von Opel in die Europazentrale der Firma Humanetics. Parallel dazu lehrt er an der Dresden International University, der Weiterbildungsuniversität der TU Dresden.
Lotta Jakobsson
Sie ist eine Autorität in der Automobilbranche. In ihrer 30-jährigen Arbeit auf dem Feld Passive Sicherheit hat Lotta Jakobsson stark zu Systemen wie dem Seitenairbag und Schleudertrauma-Schutz WHIPS beigetragen. Beim Hersteller Volvo leitet sie im Cars Safety Centre den Bereich Unfallvermeidung. „Wir haben bereits 20 bis 30 verschiedene Varianten von Dummys“, sagt die Schwedin. „Aber wir brauchen weitere!“