Was bitte sind Illegale Zebrastreifen? Zunächst einmal ganz gewöhnliche Zebrastreifen. Zebrastreifen allerdings, die ein Problem haben. Sie liegen in Luxemburg und entsprechen nicht den Regeln des dort geltenden Code de la Route. Der besagt nämlich, dass vor und hinter einem Zebrastreifen auf fünf Metern keine Einfahrt, Kreuzung und kein Parkplatz sein darf. Das erklärt Thorben Grosser, Mitgründer des „Zentrums für urbane Gerechtigkeit“ (ZUG), einem luxemburgischen Verein, der mehr oder weniger durch Zufall zum Jäger der illegalen Zebrastreifen geworden ist.  

Aber von Anfang an. Die Sache mit den Zebrastreifen beginnt vor ein paar Jahren als „Twitter-Sport“, wie Grosser es nennt. Wann immer jemand aus der luxemburgischen Fahrrad-Bubble einen Zebrastreifen entdeckt, der nicht regelkonform wirkt, postet er oder sie ein Foto davon auf Twitter.  Irgendwann fragt einer aus der Community dann bei der Stadtverwaltung nach: Wie viele Zebrastreifen entsprechen eigentlich nicht den Regeln? Einzelfälle, hieß es, alles kein Problem. Daten dazu hätte man leider keine. Die übliche Mauer-Taktik einer von neugierigen Bürger*innen genervten Behörde also. Wo man aber offensichtlich keine Ahnung hatte, wessen Ehrgeiz eine solch lapidare Antwort herausfordern würde. 

„Alle Zebrastreifen der Stadt Luxemburg? Das ist eine Zeile Code.“

Grosser und sein Freundeskreis, aus dem das ZUG hervorgegangen ist, das sind keine Menschen, die etwas einfach so glauben, nur weil eine offizielle Stelle es behauptet. Hinter dem Verein steht eine Handvoll junger Leute, die ihr geteiltes Interesse für die Themen IT, Stadtplanung und Verkehrswende zusammenbringen wollten. Das ZUG ist der Rahmen, in dem sie Projekte umsetzen, die helfen sollen, die städtische Mobilität zu verbessern, und bei dem „Menschen Unterstützung finden können, wenn es darum geht, zivile Probleme durch Daten sichtbar zu machen“, wie Grosser es zusammenfasst.

Das „Tinder für Zebrastreifen“, mit dem das Zentrum für urbane Gerechtigkeit die problematischen Fahrbahnquerungen identifiziert hat. Foto: ZUG

Konkret geht es etwa um das Programmieren eines Bots. Der postet auf Twitter automatisch alle Updates von einer kommunalen Plattform, die eingerichtet wurde, damit Bürger*innen Schäden an öffentlicher Infrastruktur melden können. Denn mit der Zeit habe man diese Plattform immer unübersichtlicher gestaltet, so Großer. Womöglich um zu kaschieren, dass gemeldete Störungen gar nicht so schnell beseitigt werden, wie versprochen.  

Mit den illegalen Zebrastreifen hat das ZUG nun also ein nächstes Projekt. Wenn die Verwaltung die Daten nicht rausrücken will (oder tatsächlich keine haben sollte), dann würden sie diese eben selber erheben. Ein Bekannter von ihm sei im Vorstand der Google-Maps-Alternative Open Street Map, so Grosser. Der meint: „Alle Zebrastreifen der Stadt Luxemburg? Das ist eine Zeile Code.“ So kommen sie an eine Liste mit 1.787 Zebrastreifen.

Natürlich geht aus dieser Liste nicht hervor, ob die Zebrastreifen regelkonform sind oder nicht. Sie alle einzeln abzulaufen ist jedoch auch keine Alternative. Die Lösung der ZUG-Truppe: ein Tinder für Zebrastreifen. Sie programmien eine App, in die aktuelle Luftbilder der Zebrastreifen eingespeist werden. Die User*innen können dann durchswipen, mit einem Fadenkreuz den Fünf-Meter-Abstand checken und die Zebrastreifen so in unverdächtige und problematische sortieren.

„Wir haben uns gefreut wie kleine Kinder“

Thorben Grosser, Zentrum für Urbane Gerechtigkeit

Die ZUG-Mitglieder schicken die App im Frühsommer 2021 an ihren erweiterten Freundeskreis. Zwei Wochen später haben sie das Ergebnis: Von den bald 1.800 Zebrastreifen in Luxemburg Stadt sind 475 nicht regelkonform. „Wir haben uns gefreut wie kleine Kinder“, erinnert sich Grosser. „Wir hatten auf einmal dieses Sachwissen, von dem es vorher unmöglich schien, das zu finden.“ Eine clevere Methode und zwei Wochen hatten ausgereicht, Daten zu erheben, die zu liefern die Verwaltung – wie sich noch zeigen sollte – über Monate nicht imstande ist. Alle Ergebnisse, den Quellcode sowie die Methode veröffentlich das ZUG. „Wir haben gesagt: Wir sind keine Experten, wir sind keine Stadtplaner, wir sind keine Juristen“, sagt Grosser, aber das seien eben die Zahlen. Und 27 Prozent nicht regelkonforme Zebrastreifen – das klingt nun wirklich nicht nach Einzelfällen.

Jeder Punkt steht für einen nicht regelkonformen (rot) oder zumindest nicht eindeutig korrekten (gelb) Zebrastreifen in Luxemburg Stadt. Foto: ZUG

Von Deutschland aus betrachtet erscheint Luxemburg in Sachen Verkehrswende vorbildhaft. Bereits seit Februar 2020 ist der Nahverkehr in dem Land kostenlos. Doch Thorben Grosser widerspricht: Die im Großherzogtum herrschende liberale Partei DP sei ähnlich autofreundlich wie die deutsche FDP. Dem Bau der Straßenbahn in Luxemburg Stadt ging ein jahrzehntelanges Gezerre voraus – unter anderem um die Frage, ob man zwei Fahrspuren der sechsspurigen Boulevards für die Tram opfern dürfe. Kostenlose Busse und Bahnen können man sich dank der Steuereinnahmen als EU-Sitz internationaler Konzerne wie Amazon Google leisten, so Grosser. „Aber der ÖPNV in Luxemburg ist darum nicht besonders gut.“

Zwar verfolgt der Luxemburgische Verkehrsminister François Bausch ehrgeizige Ausbaupläne für das Radnetz des Landes. Doch in der Gegenwart dominiert noch das Auto, nicht zuletzt, weil viele Luxemburger*innen sich auf dem Rad unsicher fühlen. Dazu passt die kürzlich festgestellte Zurückhaltung der Polizei beim Thema Kontrolle des mittlerweile vorgeschriebenen Mindest-Überholabstands.

„Das kann doch nicht euer Ernst sein“

Reaktion beim ZUG auf das Statement der Verwaltung

Nach der Veröffentlichung der Zebrastreifen-Analyse vom ZUG passiert zunächst eine ganze Weile lang nichts, so Grosser. Im November 2021 greifen dann lokale Nachrichten-Sites das Thema auf. Daraufhin melden sich Lokalpolitiker*innen, die schließlich eine kleine parlamentarische Anfrage im Gemeinderat einbringen. Die Antwort kommt diesmal schnell: Die Verwaltung habe alle Zebrastreifen in der Stadt Luxemburg geprüft und rausgefunden, dass 32 Zebrastreifen nicht konform sind. Später wird die Zahl auf 37 nach oben korrigiert. Aber so oder so – man würde sich kümmern. Die unterschiedlichen Zahlen von ZUG und Verwaltung erklärten sich dadurch, dass Grosser und seine Leute das Gesetz falsch interpretieren würden. Es existierten Absprachen zur Anwendung des Gesetzes zwischen Stadt und Verkehrsministerium. Und an die halte man sich.  

Diese Antwort finden sie beim ZUG natürlich interessant. Die Gruppe bittet per Informationsfreiheitsantrag um die Liste der Zebrastreifen und den Inhalt der Absprache. Ein Monat verstreicht, erinnert sich Grosser. Die Verwaltung bittet um etwas Geduld. Nach weiteren zwei Monaten dann die Ernüchterung: Antrag abgelehnt. Die Zebrastreifen-Liste könne man nicht herausgeben, sie enthalte personenbezogene Daten. Und die Absprache mit dem Verkehrsministerium ebenfalls nicht. Denn die sei mündlich getroffen worden und vor allem geheim. Mehr wisse man auch nicht, das habe man so von den Vorgängern übernommen. 

Problem Sichtfeld: Zu nah am Zebrastreifen geparkte Autos verdecken auf dem Gehsteig wartende Passanten. Foto: ZUG

„Das kann doch nicht euer Ernst sein“, denken sie sich damals bei ZUG, erinnert sich Grosser. Also versuchen sie es bei der Ombudsstelle des Justizministeriums, die über die Zulässigkeit der Anfragen entscheidet. Wieder einen Monat warten, dann bekommen sie die Bestätigung, dass sie ein Recht auf die Daten haben. Statt ihnen die Daten nun zu geben, lädt die Verwaltung zu einem persönlichen Gespräch. Dafür habe sich sogar die Bürgermeisterin Zeit genommen, berichtet Grosser. Neue Erkenntnisse erwachsen aus dem Treffen aber keine. 

Aktuell läuft die nächste Runde im Ringen um die Herausgabe der Daten. Das ZUG hat eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, um eine Klage vor dem Verwaltungsgericht zu finanzieren. Zunächst warten Grosser und seine Mitstreiter*innen mal wieder auf die Rückmeldung der Stadt Luxemburg. Die Frist dafür läuft Anfang Dezember ab.  

Weil ihnen selbst aber durch die illegalen Zebrastreifen kein Schaden entstehe, wäre die Alternative, so lange zu warten, bis jemand überfahren wird und diese Person beziehungsweise die Hinterbliebenen bei einem Gerichtsprozess auf Schadensersatz zu unterstützen, erklärt Grosser. „Eine total perverse Situation irgendwie.“ Gut, eine weitere Alternative gäbe es schon. Er und seine Freunde könnten die Sache mit den illegalen Zebrastreifen auch einfach auf sich beruhen lassen. Aber das ist nun wirklich nicht ihr Stil.

„Niemand von uns hat ein extremes Interesse an Zebrastreifen“

Thorben Grosser

Grosser sagt: „Niemand von uns hat ein extremes Interesse an Zebrastreifen.“ Ihnen sei es ja nur darum gegangen, an einem konkreten Beispiel zu zeigen, wie man öffentliche Daten nutzen kann, um Missstände aufzuzeigen und so deren Beseitigung anzuschieben. „Der Traum wäre einfach gewesen, wenn irgendein Player in der in der Verwaltung oder der Politik unsere Daten genommen und gesagt hätte: Das Problem lösen wir jetzt.“ Bei ZUG würde man lieber längst neue Ideen angehen und anderen Gruppen helfen, ihr Tool für eigene Projekte einzusetzen. Doch irgendwie steckten sie nun eben in diesem juristischen Hickhack um die Zebrastreifen. 

Parkplatz wird zur Sperrfläche – ein nicht-regelkonformer Zebrastreifen weniger. Foto: ZUG

Was aber ist eigentlich das Problem, dass die Verwaltung sich dermaßen sträubt, die Daten herauszugeben oder die eigene Ahnungslosigkeit einzuräumen? Die Antwort kenn Grosser noch nicht. Aber er hat eine Theorie: „Luxemburg ist einfach eine extrem autofreundliche Stadt. Die mögen gerne Autos, die mögen gerne Parkplätze.“ Und genau das ist das Problem: In den meisten Fällen der vom ZUG gesammelten Fälle befänden sich Parkplätze zu nah an Zebrastreifen. Eine konsequente Einhaltung der Fünf-Meter-Abstand-Regeln bedeutete also den Verlust von Parkraum. Anders gesagt. Im Grunde hat Luxemburg also gar kein Problem mit illegalen Zebrastreifen, sondern eins mit Illegalen Parkplätzen. 

Immerhin, mittlerweile scheint etwas Bewegung in die Sache zu kommen. Auch wenn die Behörden offiziell weiterhin schweigen, schaffen jemand dort Fakten. Grosser und seine Mitstreiter*innen beobachten in letzter Zeit immer mehr mit Linien übermalte, somit quasi entwidmete Parkplätze. Könnte also sein, dass sich das Problem mit den Illegalen Zebrastreifen bald erledigt hat. Und damit ihnen dann nicht langweilig wird, haben die ZUG-Aktivist*innen bereits ein neues Projekt.

Vor einiger Zeit habe die Stadt Luxemburg mitgeteilt, dass auf 87 Prozent der Straßen Tempo 30 gelte. Natürlich rechneten sie bei ZUG direkt nach – und kamen auf 13 Prozent. „Egal wie sehr man es dreht“, sagt Grosser – also etwa nur kommunale Straßen betrachtet und bei einer kleine Tempo-30-Zone die komplette Straße als geschwindigkeitsreduziert wertet – „man kommt nie auf 87 Prozent“. Aber vielleicht klärt die Stadt das neue Rätsel ja bald auf, so Grosser. Informationsanfrage ist raus.

Want to know more?

THORBEN GROSSER

THORBEN GROSSER

Der Luxemburger lebt mit mittlerweile in Hamburg und befasst sich beruflich mit Event-Software. Doch durch die Zebrastreifen-Posse ist Thorben Grosser seiner Heimat auch in der Diaspora mittlerweile enger verbunden als er selbst gedacht hätte.

FRANÇOIS BAUSCH

FRANÇOIS BAUSCH

Luxemburgs aktueller Verkehrsminister ist die Verkörperung der Verkehrswende im Großherzogtum. Der einstige Bahn-Mitarbeiter ist Mitglied der Grünen und war Wegbereiter der Wiedereinführung der Straßenbahn sowie des Aufbaus eines Radnetzes.