„Wir sind keine Aktivisten und wollen das auch gar nicht sein“
Frauke Burgdorff und Thomas Dienberg von der Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeit“ wollen Tempo 30 zum neuen Normal in der Stadt machen
Der Name klingt harmlos: „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeit“. Doch dahinter steckt nicht weniger als eine Revolution. Statt Tempo 50 soll die Grundgeschwindigkeit in deutschen Städten künftig 30 km/h betragen. Und vor allem: Die Städte sollen endlich selbst festlegen können, wo von wem wie schnell gefahren werden darf – und nicht mehr länger das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV).
Fast auf den Tag genau ein Jahr ist es jetzt her, dass Frauke Burgdorff, Stadtbaurätin in Aachen, und Thomas Dienberg, Leipzigs Bau-Bürgermeister, die Initiative mit einem Positionspapier angestoßen haben. Aus den sieben Erstunterzeichnenden sind mittlerweile über 200 Städte geworden. Inzwischen repräsentiert „Lebenswerte Städte“ bereits ein Viertel aller Stadtbewohner:innen in Deutschland. Beinahe täglich kommen neue Kommunen hinzu. Nur das BMDV hat bislang noch nicht auf die Anliegen der rasant wachsenden Bewegung reagiert.
„Wir Stadtentwickler sind unglaublich zäh“
Frauke Burgdorff, Stadtbaurätin Aachen
Das Problem: Es braucht eine Änderung der StVO, um Tempo 30 zum neuen Normal zu machen. Aktuell bedeutet der Status einer „Hauptverkehrsstraße“ nämlich, dass dort – abgesehen von Ausnahmen wie vor einer Kita – Tempo 50 zu gelten hat. Ganz egal, ob es sich um eine belebte Wohnstraße handelt oder einen Autobahnzubringer. 80 Prozent der Anträge, Tempo-30-Bereiche einzurichten, müssen derzeit nach Prüfung darum abgewehrt werden, erklärt Dienberg im Podcast.
„Wir wollen mehr Flexibilität haben“, so Leipzigs Bau-Bürgermeister. Und seine Mit-Initiatorin Burgdorff ergänzt: „Es geht nur darum, eine vernünftige Grundgeschwindigkeit zu definieren und daraus eine neue Systematik zu entwickeln.“ Fast überall sonst in Europa handhabe man das Thema Tempo in der Stadt flexibler als im Land der „freien Fahrt für freie Bürger“.
Doch auch wenn ihnen von ideologischen Tempo-30-Gegner:innen ihrerseits eine ideologische Haltung vorgeworfen würde und die Initiative auf Bundesebene bislang gegen eine gläserne Decke stoße – an aufgeben denken die beiden definitiv nicht: „Wir Stadtentwickler sind unglaublich zäh“, sagt Burgdorff. Dienberg sieht das aktuelle Momentum der Debatte um eine bessere Mobilität auf ihrer Seite: „Das Thema ist in Fahrt. Die kommunale Ebene möchte das unabhängig von der politischen Couleur. Und von daher lässt sich das gar nicht mehr aufhalten.“
Durch kreative Auslegung der bestehenden Regelungen würde bereits in vielen Städten experimentiert. Natürlich immer innerhalb des gesetzlichen Rahmens, wie die beiden erklären. „Wir sind ja keine Aktivisten und das wollen wir auch gar nicht sein“, sagt Burgdorff. Aber doch Wegbereiter:innen einer menschengerechteren Mobilität in den Städten. „Wenn wir sagen, das Schutzgut Mensch steht über dem fließenden Verkehr, dann müssen wir automatisch dahin kommen, dass wir das Tempo frei anordnen dürfen.“
Warum die Debatte um Tempo 30 hierzulande so hitzig geführt wird, wieso die Erfüllung der Forderungen ihrer Initiative in der Praxis gar nicht so viel ändern würde und warum ein bisschen mehr Italien in Deutschland gut tun würde – das sind die Themen der neuen Episode des FUTURE MOVES Podcasts mit Frauke Burgdorff und Thomas Dienberg von der Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeit“.
Über diese Themen sprechen Frauke Burgdorff und Thomas Dienberg im FUTURE MOVES Podcast:
… wer bestimmt, welches Tempo wo in Städten gilt (2:46)
… die Ursprünge der Initiative (4:33)
… Ideologieverdacht und fragwürdige Freiheitsideale (7:23)
… die Definition von „Hauptstraßen“ als praktisches Hemmnis (12:11)
… Aktivismus und kreative Auslegung bestehender Regeln (15:00)
… Unfallvermeidung als Folge geringerer Geschwindigkeit (20:17)
… ihre Vision einer Stadt mit geringerer Grundgeschwindigkeit (23:59)
… mangelnde Unterstützung durch die Bundesregierung (26:25)
… Verkehrspolitik als Weg zu mehr Partizipation (32:25)
… kalkulierte Dehnung des bestehenden Rechts (39:28)
… die Fokussierung der Initiative auf mittelgroße Städte (43:22)
… Festhalten an Tempo 50 als Imageproblem (48:27)
… ihren „Mix der Woche“ (52:54)
… den Einfluss des 9-Euro-Tickets auf urbane Mobilität (55:02)
… eine untergeordnete Rolle des Autos in der Stadt (59:05)