Geht es nach Marc Harris, ist Gamification ein äußerst vielversprechender Ansatz, um Menschen in ihrem Verhalten zu beeinflussen. Er ist Forschungsleiter der Intelligent Health Ltd. an der University of Reading (England) und hat im westlichen Londoner Stadtteil Hounslow sein „Beat the street“-Programm erfolgreich im Feld erprobt: Sechs Wochen lang konnten die Bewohner:innen eine Plastikkarte an 161 Sensorboxen halten, um zu belegen, dass sie Strecken nicht mit dem Auto, sondern zu Fuß oder auf dem Fahrrad zurückgelegt haben. Dafür gab es Punkte als Grundlage für Einzel-, Gruppen- oder Schulklassen-Rankings – die Motivationsspritze.

28.000 Personen machten mit, etwa ein Zehntel der gesamten Stadtteilbevölkerung. Eine Kamera auf der zentralen Cambridge Road beobachtete nach den sechs Wochen einen Rückgang von Kraftfahrzeug-Bewegungen von 36 Prozent am Nachmittag und 53 Prozent in den Morgenstunden gegenüber vor dem Versuch. Teilnehmende einer begleitenden Umfrage freuten sich zudem über eine bessere Fitness und über das Kennenlernen von Straßenzügen, von sie nicht einmal wussten, dass es sie gibt. Inzwischen nehmen weitere britische Städte teil.

„Gamification macht aktive Fortbewegungsarten begehrenswerter“

Marc Harris, Forschungsleiter University of Reading

Harris Fazit lautet darum: „Gamification kann das individuelle Mobilitätsverhalten verändern. Es baut gängige Barrieren und eingefahrene Gewohnheiten ab und macht aktive Fortbewegungsarten begehrenswerter.“ Ein wichtiger Erfolgsfaktor sei das Setup mit der Plastikkarte, sagt Harris. Dadurch fühlten sich die Menschen mit etwas verbunden; das Antippen einer Karte auf einem physischen Gerät gebe ihnen ein Gefühl der Befriedigung, eine Reise unternommen zu haben. Anders als bei einer App sei dies eine sehr niedrige Einstiegsschwelle und lade damit Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und Fähigkeiten auf Augenhöhe ein mitzuspielen. 

Die Lösung aller Probleme – einfach ein Spiel spielen? Leider nicht ganz, Harris schränkt ein: „Gamification kann einen ersten Anstoß geben. Aber wenn ein Gebiet schlecht gestaltet ist oder negativ wahrgenommen wird, können die Menschen in alte Gewohnheiten zurückfallen. Unsere neueren Forschungsergebnisse legen nahe, dass wir auch einen maßgeschneiderten Ansatz wählen müssen: Unterschiedliche Menschen finden unterschiedliche Gamification-Komponenten ansprechender. Wir müssen uns diese unterschiedlichen Komponenten zunutze machen, um sicherzustellen, dass jede Person, die sich auf Programme dieser Art einlässt, den größten Nutzen daraus zieht.“

Mittels eines Sensors dokumentierten die Teilnehmenden ihre zurückgelegten Strecke. Foto: Intelligent Health

Diese Einschränkungen sieht auch Andreas Gilbert – und erweitert sie noch. Aktuell ist er Beauftragter für Nahmobilität der Stadt Eschborn bei Frankfurt/Main und kennt in dieser Funktion diverse Angebote, die sich Gamification-Elementen bedient. Etwa das „Stadtradeln“, bei dem sich Kommunen mit ihren Bewohnern untereinander darin messen, möglichst viele Kilometer nachhaltig und umweltfreundlich auf dem Fahrrad zurück zu legen. Das klappe über kurze Zeiträume und bei untereinander bekannten Nutzer:innengruppen ganz gut. Bereits während seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Frankfurt University of Applied Science hat er sich mit Gamification befasst, unter anderem in dem Projekt SG4Mobilty.

Allerdings sprächen solche Ansätze mutmaßlich vor allem „solche Menschen an, die ohnehin schon an nachhaltiger Mobilität interessiert sind.“ Auch er glaubt, dass erfolgreiche Motivations-Spiele mit einem genau für die Zielgruppe konfektionierten Design, hohen kommunikativen Aufwand und langer Vorbereitungszeit verbunden sind. Immerhin: Monetäre Anreize funktionierten nach seinen Erfahrungen besonders gut. Vielleicht ein Ansatz, der sich mit gesünderen Menschen und damit sinkenden Krankheitskosten finanzieren ließe? Alles andere als abwegig, denn Bonusprogramme von Krankenkassen sind ein alter Hut – und nichts anderes als Gamification. 

„Ein schlechter Takt bringt niemanden zur Bahn, auch mit dem besten Spiel nicht“

Andreas Gilbert, Beauftragter für Nahmobilität der Stadt Eschborn

Wie Harris sieht auch Gilbert als extrem wichtigen Faktor die Infrastruktur und das Verkehrsmittelangebot: „Ein schlechter Takt oder eine unattraktive Verbindung bringen niemanden zur Bahn, auch mit dem besten Spiel nicht. Gleiches gilt für das Gefühl, als Radfahrende:r ständig irgendwelchen Gefahren ausgesetzt zu sein oder Umwege fahren zu müssen.“ Dafür setzt er sich in seiner aktuellen Funktion für Hardware ein, die taugt: Gute Beschilderung und Markierung, ebene Wege, bessere Fahrradabstellmöglichkeiten.

In Hounslows achteten die Initiator:innen des Projekts auf die barrierefreie Berücksichtigung aller Menschen. Foto: Intelligent Health

Eng verwandt mit Gamification sind so genannte „Serious Games“, also ernste Spiele. Hier darf gedaddelt werden, aber zu einem Thema aus dem echten Leben. So auch im Falle des MobileCityGame des Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe: Ziel des laufenden Projekts ist die Entwicklung eines Spiels, das für die Stadt Karlsruhe mit echten, jedoch vereinfachten Umwelt-, Verkehrs- und Verhaltensmodellen arbeitet. „Die Spielenden können aus einer Vielzahl von Maßnahmen zur Beeinflussung und Verbesserung von Mobilität und Stadtbild wählen, Zukünfte entwickeln und deren Wirkungen entlang der Grundprinzipien der Nachhaltigkeit, Umwelt, Soziales, Wirtschaft, erleben“, so beschreibt es das Projektteam um die Leiter:innen Dr. Susanne Bieker und Dr. Claus Doll. 

„Veranschaulichung von komplexen verkehrs- und stadtplanerischen Zusammenhängen“

Fraunhofer-Institut für System und Innovationsforschung

Oder etwas einfacher: Nicht nur kommunale Bedienstete können sehen, wie sich ein neues Mobilitätsangebot oder eine geänderte Verkehrsführung auf das Verhalten der Bewohner:innen einer Stadt und letztlich insgesamt auswirkt, sondern auch Anlieger:innen und Entscheider:innen in ansässigen Unternehmen. Es macht die komplexe Situation verständlich sowie die Auswirkungen von Einzelmaßnahmen und kann zu einer verbesserten Akzeptanz von Entscheidungen beitragen. Etwas wissenschaftlicher ausgedrückt, dient es der „niedrigschwelligen und allgemein verständlichen Veranschaulichung von komplexen verkehrs- und stadtplanerischen Zusammenhängen und Entscheidungsoptionen“ heißt es weiter in der offiziellen Beschreibung.

Die dafür nötige Vereinfachung der Wirklichkeit war bislang die größte Herausforderung des Projekts, jedoch „haben wir nun ein vielversprechendes Setup entwickelt, das sowohl der Komplexität aller darzustellenden Zusammenhänge als auch der nötigen Verständlichkeit gerecht wird“, sagt Dr. Susanne Bieker. Die beiden Projektleiter:innen sehen die Stärke eines spielerischen Anfangs für tatsächliche Aufgaben in der Forschung in der Ansprache der späteren Nutzer:innen. Wissenschaftskommunikation nicht auf Papier mit Text, sondern als modernes Digitaltool, das sich positiv auf die Motivation der Teilnehmenden auswirkt.

Ein weiterer Nutzen des Serious Games: Die Daten, die beim Spielen entstehen, geben Aufschluss über das Denken und typische Verhaltensweisen unterschiedlicher Zielgruppen. Insofern nutzt das Spiel auch als Sammler von Daten, die wiederum neue Ansätze liefern, wie sich der Mobilitätswandel weiter voranbringen lässt. Eine erste Vorabversion soll im Laufe des Mai 2022 der Öffentlichkeit präsentiert werden.

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Marc Harris

Marc Harris

Marc Harris ist seit sechs Jahren bei Intelligent Health. Dort beschäftigt er sich mit Interventionsdesign, Bewegungsförderung, Gamification, Alkohol- und Drogenkonsum.

Dr. Susanne Bieker

Dr. Susanne Bieker

Als Projektleiterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung verantwortet Susanne Bieker die Entwicklung des „Serious Game“ der Stadt.