Digital Twin: Wie der Hafen in Rotterdam digital und autonom wird
Im Rotterdamer Hafen werden jährlich etwa eine halbe Milliarde Tonnen Waren und Güter umgeschlagen – und das schon bald automatisiert. Ein erster Schritt ist dahin der neue digitale Fahrplan "Routescanner". Für die Vision für das Jahr 2030 "autonome Schifffahrt" arbeitet der Hafenbetreiber an einem digitalen Abbild von einfach allem
Etwa 90 Prozent des Übersee-Handels gelangen auf einem Schiff ans Ziel. Allein die drei größten Seefracht-Logistiker setzten 2020 damit rund 111 Milliarden Dollar um. Entsprechend viel Einsparpotential dank Automatisierung erhoffen sich Logistikunternehmen und weitere Beteiligte der Branche. Dazu gehören auch die großen Häfen, ganz besonders der in Rotterdam, der mit einem Umschlag von zuletzt 233 Millionen Tonnen allein im ersten Halbjahr 2022 schon seit Jahren an Verbesserungen für seine Nutzer auf digitaler Basis arbeitet.
Ein weiteres wichtiges Tool zu diesem übergeordneten Ziel ist nun online: Routescanner. Entwickelt hat den digitalen Fahrplan das Betreiberunternehmen des Rotterdamer Überseehafens und ist offen für alle, die den größten europäischen Überseehafen in ihrer Logistikkette haben. Mittlerweile teilen dort mehr als 150 Unternehmen (Stand: 18.08.2022) ihre Navigations- und Fahrpläne. Damit sei das Tool, das den Vorgänger Navigator abgelöst hat, auf dem „besten Wege, zum weltweit genutzten neutralen Ort für die Anzeige von Containerstrecken zu sein“, verkündet der Hafenbetrieb Rotterdam. Der Routescanner ist neben der sogenannten 4D-Sensorik ein wichtiger Bestandteil auf dem weg zur autonomen und effizienten Schifffahrt.
Dem Unternehmen gehe es um digitale Transparenz, um seiner Kundschaft effizientere Abläufe und mehr Planungs- und Betriebssicherheit zu bieten: In der Unternehmensphilosophie ist ein Hafen eben keine einfache Umschlagsfläche in einer Logistikkette mit weiteren Knotenpunkten – sondern „Teil einer transparenten, digitalen Transportkette“, so das Betreiberunternehmen. Die Digitalisierung aller Fahrpläne ist in diesem Zusammenhang nur eine Komponente, denn der Hafen will seiner Kundschaft ab 2030 die Abwicklung autonomer Schiffe anbieten.
Auch wenn über die Entwicklung solcher Wasserfahrzeuge bei Weitem nicht so umfangreich berichtet wird wie über die Vision Autonomes Fahren auf der Straße, gibt es reichlich Projekte, die nicht mehr allzu weit vom regelmäßigen Einsatz auf den Weltmeeren entfernt sind. So etwa die Yara Birkeland, die außerdem noch elektrisch unterwegs ist. Auch Massterly hat sich dieses Ziel auf die Fahne geschrieben; Hyundai soll gerade mit dem Tanker Prism Courage auf diese Weise eine beachtliche Strecke zurückgelegt haben – und spricht von ersten kommerziellen Einsätzen binnen Jahresfrist. Auch eine 40-stündige Testfahrt eines 95-Meter-Frachters vor Japan war offenbar von Erfolg gekrönt. Vergleichbar autonom, aber außerhalb logistischer Aufgaben, etwa für die Inspektion von Offshore-Anlagen, wird an weiteren autonomen Wasserfahrzeugen gearbeitet. Experten rechnen mit einem Marktvolumen allein in der Logistikbranche von bis zu 230 Milliarden Dollar bis zum Jahr 2028.
„Ein Hafen ist ein Logistikkonzern und eine Stadt zugleich“
Marko Prisky, Esri Deutschland
Es ist also nicht zu früh für einen der größten Häfen weltweit, in diese Richtung zu denken. Gegen die paar Fahrpläne und Routen, die die teilnehmenden Logistikunternehmen bei Routescanner aktuell hochladen, sind die Datenmengen, die in Echtzeit benötigt werden, um zeitgleich im Einsatz befindliche autonome Schiffe automatisiert einfahren, anladen, löschen oder laden zu lassen allerdings ein Witz: „Ein Hafen ist ein Logistikkonzern und eine Stadt zugleich“, sagt Marko Prisky, Director Product and Portfolio Management bei Esri Deutschland, das sich hierzulande seit 1979 mit digitalen Informationssystemen, die auf solchen Geodaten basieren, beschäftigt. „Es laufen auf einer großen Seefläche Prozesse auf engstem Raum ab, die alle miteinander verzahnt sind. Zu den festen räumlichen Gegebenheiten wie Gebäude oder Kaianlagen kommen sich verändernde Eigenschaften wie etwa der Füllstand eines Silos oder die Belegung eines Krans. Außerdem gibt es Ver- und Entsorgung, Gas, Wasser, Strom im ganzen Hafen, deren Handling stets sichergestellt sein muss.“
Für diese und weitere Daten wird der Hafen schon seit einiger Zeit mit unzähligen Sensoren ausgestattet, um wirklich alle relevanten Daten erfassen zu können. Dabei und bei der Visualisierung sowie der Auswertung ist Geodaten-Spezialist Esri mit Hauptsitz in den USA behilflich. Dazu gehören auch weitere sich stetig veränderbare Werte zu Wasserstand, Strömung oder Störungen, die allesamt Auswirkungen auf Abläufe im Hafen haben. Als Ergebnis soll so in absehbarer Zeit ein 4D-Modell des Hafens entstehen, wobei die „4“ nicht nur für die zeitliche Komponente steht, sondern stellvertretend für alle dynamischen Werte des Modells.
Prisky betont, dass sich dieser Ansatz nicht halbherzig betreiben lasse. Nur wenn sämtliche für den Betrieb des Hafens nötige Daten in einem Digital Twin realitätsnah und in Echtzeit abbilden ließen, sei im Ergebnis eine vollständig digitale An- und Abmeldung eines autonomen Schiffes im Hafen Rotterdam möglich, ohne dass es eines einzigen Handgriffes eines Menschen bedarf. Ob das vom Hafen Rotterdam genannte Ziel 2030 realistisch ist, will er nicht bewerten. Es sei aber wohl tatsächlich nur eine Frage der Zeit, bis autonome Schiffe zwischen den Häfen der Welt verkehren.
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Vivienne de Leeuw
Sie möchte ihren Beitrag zum Wandel leisten, sagte Vivienne de Leeuw anlässlich ihrer Ernennung als CFO des Rotterdammer Hafens. Zuvor war sie als CFO bei RTL Nederland und KPN Consumer Residential tätig.
Marko Prisky
Als Director Product and Portfolio Management bei Esri Deutschland beschäftigt sich Marko Prisky bereits seit knapp 15 Jahren mit digitalen Informationssystemen auf Basis von Geodaten. Esri selbst ist seit 1979 in der Branche tätig.