Einmal von Süd nach Nord durch Deutschland. Angetrieben allein durch die Kraft der eigenen Muskeln. Fast 1.100 Kilometer in unter 33 Stunden. Das ist der Rekord, den der Extremsportler Holger Seidel an diesem Wochenende knacken will. Bei seinem Fahrzeug handelt es sich aber nicht um ein gewöhnliches Rennrad – mit dem würden allenfalls Vollprofis diese Distanz in der vorgegebenen Zeit schaffen – sondern um ein sogenanntes Velomobil.

Das kann man sich als eine Art vollverkleidetes Liegerad mit drei Rädern vorstellen, dessen Äußeres an alte Sportwagen erinnert. Der Vorteil der aerodynamisch optimierten Hülle: Velomobil-Fahrer:innen müssen nur halb so viel Kraft aufwenden wie bei einem unverkleideten Fahrrad. Auf ebener Strecke lassen sich damit Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 80 km/h erreichen; begab noch weit mehr, wenn man sich das denn zutraut.

„Ich habe schon seit sehr vielen Jahren eine große Vorliebe für lange Strecken“, sagt Holger Seidel. In den 90er-Jahren ist er – mit einem gewöhnlichen Rennrad – bis nach Marokko gefahren. Später habe er sich Osteuropa erradelt. Tagesetappen von 200 bis 300 Kilometern seien für ihn normal gewesen. Bis er auf das Velomobil umstieg. Seitdem hätten sich die Distanzen verdoppelt auf bis zu 600 Kilometer am Tag. So gesehen ist der Sprung zur Deutschlanddurchquerung gar nicht mehr so weit gewesen. Oder, wie Seidel es umschreibt: „Mit den Herausforderungen wachsen die Vorstellungen, was könnte als nächstes kommen.“

Bei seiner Rekordfahrt wird der Hobbyathlet fast permanent unterwegs sein, nur drei längere Pausen von je um die 40 Minuten eingeplant. Seidel rechnet mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von um die 45 Stundenkilometer. Darum wird er Ortschaften mit Tempo-30-Zonen umfahren. Ebenso möglichst alle Straßen, wo ihn Staus, Baustellen oder Umleitungen ausbremsen könnten. Eine Herausforderung. Denn für Seidels Fahrt werden keine Strecken gesperrt. Er muss sich mit dem üblichen Wochenendverkehr auf deutschen Bundesstraßen arrangieren. 

Holger Seidel, hier noch mit seinem bisherigen Velobike-Modell Milan SL MK7. Den Rekord will er mit dem komplett neuen Bülk MK1 knacken

Damit er trotzdem so schnell es geht vorankommt, scoutet ein Helfer bereits seit Jahresbeginn die optimale Route. Regelmäßig hat Seidel im Velomobil-Forum Feedback eingesammelt von Leuten, die sich mit den lokalen Gegebenheiten auskennen. Und er hofft auf gutes Wetter. Denn zu große Wärme bedeutet eine Hitze in seinem Cockpit, gegen die er auch nicht mit gekühlten Getränken und der mitgeführten Sprühflasche ankäme. Regen wäre ebenfalls eine Herausforderung, da Velomobil-Fahrer:innen auf drei schmalen Radreifen unterwegs sind und ihre Umgebung nur durch verglaste Sehschlitze erblicken.

Die Velomobil-Forum, wo jede:r um die Besonderheiten dieser Form der Fortbewegung weiß, fiebern gerade viele mit. Man wünscht Seidel Glück und grüne Ampeln. Überhaupt wäre sein Rekordversuch ohne die Community nicht durchführbar. Es handelt sich um ein reines Hobbyprojekt. Seidels Helfer:innen stammen aus der Szene. Ebenso den benötigten niedrigen fünfstelligen Euro-Betrag, der durch Sponsorings und Spenden zusammengebracht wurden.

Velomobile sind eine extreme Nische. Vielleicht 10.000 Menschen würden sich ersthaft damit befassten, schätzt Seidel. Pro Jahr dürften so 300 bis 400 Fahrzeuge gebaut werden. Es gibt eine Handvoll Hersteller, die zumeist aus den Niederlanden stammen. Deren Modelle werden nahezu alle in einer einzigen Fabrik in Rumänien montiert. Die Stückpreise beginnen bei 10.000 Euro für Basisversion ohne Licht oder Gepäckfächer. 

„Seit Kindertagen pendle ich alles mit dem Fahrrad, was irgendwie möglich ist“

Holger Seidel

In der Theorie machen Wetterschutz und hohe Geschwindigkeit das Velomobil zum idealen Fahrzeug für Pendler:innen. Doch hohe Kosten, bedingte Alltagstauglichkeit und die Abwesenheit jeglichen Komforts stehen dem bislang entgegen – zumindest was einen größeren Markt betrifft. Doch im Fall von Seidel war es tatsächlich die Suche nach einem Alltagsfahrzeug, die ihn auf das Velomobil gebracht hat. 

„Seit Kindertagen pendle ich alles mit dem Fahrrad, was irgendwie möglich ist“, sagt der Braunschweiger. Schon in seiner Jugend sei er lange Strecken. Radwege hätte es damals keine gegeben, also fuhr er auf der Bundesstraße. „Das war aus heutiger Sicht lebensgefährlich.“ Als Seidel vor einigen Jahren einen neuen Job antrat, der mit 100 Kilometer Pendelstrecke pro Richtung verbunden war, erinnerte er sich an eine Sternfahrt, an der er zuvor teilgenommen hatte. Da sei ein Velomobilist dabei gewesen, der permanent auf den Rest der Gruppe hätte warten müssen. Also informierte sich Seidel über das kuriose Vehikel, kaufte eins und nutzt es seitdem als Alltagsfahrzeug.

Natürlich ist Seidel klar, dass er als Velomobil-Pendler ein Exot ist. Es handelt sich um Sportgerät, das extrem eng und niedrig ist – und sicher nicht für den Berufsverkehr gedacht. Man befinde man sich im Straßenverkehr immer unterhalb der anderen Fahrzeuge, so Seidel. Das sei schon „sehr, sehr gewöhnungsbedürftig“. Allerdings sei seine anfängliche Ängstlichkeit nach drei, vier Monaten verflogen. Die oft bunt lackierten und ungewöhnlich geformten Velomobile würden mit den Sehgewohnheiten brechen. Darum begegneten ihm Autofahrende sogar mit mehr Rücksicht als wenn er mit dem Rad unterwegs sei.

Mit dem „Future Mobility Concept“ imaginiert der Fahrradhersteller Canyon seine Vision eines Auto-ähnlichen Pendler-Bikes. Foto: Canyon

Noch sind Velomobile eine absolute Seltenheit auf den Straßen. Dabei bieten sie einen immensen Vorteil gegenüber dem Fahrrad: der mangelnde Schutz vor Regen ist nach wie vor einer der zentralen Gründe, der Menschen von einem Umstieg vom Auto aufs Rad abhält (wie Christina Diem-Puello von der Leasing-Plattform Deutsche Dienstrad gerade im FUTURE MOVES-Podcast deutlich gemacht hat). Darum arbeiten die Hersteller an alltagstauglicheren Modellen. 

Es gibt inzwischen Varianten mit ausreichend Stauraum für einen Wocheneinkauf oder Mitfahrende, Versionen mit Federung und Überlegungen, Velomobile mit E-Antrieb auszustatten. Selbst etablierte Mainstream-Hersteller mischen hier mit. Canyon hat vor einiger Zeit ein Konzept für ein Auto-ähnliches Velomobil mit vier Rädern vorgestellt. 

In solchen Modellen, die eine größere Nähe zum Auto aufweisen, mehr Komfort und Sicherheitsgefühl bieten – und nicht auf maximale Durchschnittsgeschwindigkeit getrimmt sind – sieht Seidel großes Potenzial. Für ihn steckt das zentrale Hindernis für eine größere Adaption von Velomobilen und verwandten Fahrzeugen nicht im Mangel entsprechender Ideen.     

„Ich habe ein bisschen eine Abneigung gegen Radwege“

Entscheidender sei die Art und Weise, wie der Verkehrsraum aktuell aufgeteilt ist. Er habe „ein bisschen eine Abneigung gegen Radwege“, sagt Seidel. Denn die würden oft nach der Maßgabe geplant, Radfahrende hätten ja Zeit. Darum würden sie oft Umwege nehmen. Die zunehmende räumliche Trennung von Rad- und Autoverkehr habe einen negativen Effekt der Entwöhnung. Besser als neue Infrastruktur wäre Seidels Meinung nach, alle Verkehrsteilnehmer:innen zu mehr gegenseitige Rücksichtnahme anzuhalten und die Rechte der Schwächeren im Straßenraum zu stärken – wobei ihm klar sei, dass dies eine weit größere Herausforderung ist.

Der Bau neuer Radwege hat für Seidel – nicht nur mit Blick auf die anstehende Rekordfahrt – negative Konsequenzen. Denn sobald ein Radweg entlang einer Bundesstraße eröffnet wird, stellen die Behörden an der Straße Fahrradverbot-Schilder auf. Und damit hat Seidel ein generelles Problem: „Ich wollte schon immer schnell vorankommen.“

UPDATE : Versuch geglückt. Holger Seidel erreichte am 28. August am späten Vormittag die dänische Grenze nach 1055 Kilometern Fahrt in seinem Velomobil und mit einer neuen Rekordzeit: 29 Stunden und 57 Minuten. Damit war er drei Stunden schneller unterwegs als der vorherige Bestzeit-Inhaber.

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Holger Seidel

Holger Seidel

Seit fast 40 Jahren sitzt Holger Seidel im Sattel: erst Bahnradsport, dann Mountainbike, dann Langstrecke. Vor fünf Jahren kam er auf das Velomobil, mit dem er am Wochenende 27./28. August 2022 die Durchquerung Deutschlands im Rekordtempo angeht. Updates gibt es hier.

Eggert Bülk

Eggert Bülk

Der Ingenieur Eggert Bülk ist Namenspatron und Mit-Konstrukteur des Velomobils Bülk MK1, mit dem Holger Seidler seinen Rekordversuch unternimmt. Der Garagenbaster ist ein Pionier im Bau von Velomobilen und anderen stromlinienförmigen Fahrzeugen.