In Deutschland ist man so empört, wenn der Nachbar mit 23 km/h durch die Spielstraße rast. Und nirgendwo sonst ist man so empört, wenn er es zwei Straßen weiter tatsächlich wagt, mit 30 bei 30 zu schleichen. Man möchte schließlich heute noch ans Ziel kommen. Und gerade jetzt sehen sich Autofahrer:innen in diesem Land mehr denn je als Opfer. Explodierende Benzinpreise, ein FDP-Verkehrsminister, der das Elektroauto preist, die Debatte um Tempo 30 innerorts – an vielen Orten bröckelt der deutsche Mythos von der „freien Fahrt für freie Bürger“.

Diese Freiheit lassen wir uns viel kosten: 2019 sind knapp 23.000 Menschen im Straßenverkehr in der EU gestorben. 2020 waren es zwar rund 4.000 weniger, ohne die Covid-19-Zwangspause wären die Zahlen wohl auf vergleichbarem Niveau gewesen. Am 1. Januar 2021 waren knapp elf Millionen Menschen im Flensburger Fahreignungsregister dokumentiert. 2020 waren über 2,7 Millionen Menschen zu schnell unterwegs, zu Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit war dabei der Lieblingsverstoß. Rasen ist in Deutschland leider immer noch ein Kavaliersdelikt. Doch das soll sich nun ändern.

„Unser Ziel ist es, die Verkehrstoten bis 2050 auf Null zu reduzieren.“

Vision Zero 2050 der Europäische Kommission

Die Europäische Kommission schreibt auf ihrer Webseite: „Unser Ziel ist es, die Verkehrstoten bis 2050 auf Null zu reduzieren.“ Das soll unter anderem mit einer ganzen Reihe an technischen Vorgaben für Autohersteller erreicht werden. Einige davon sind in vielen neueren Autos bereits verbaut und werden jetzt lediglich zum Standard. Dazu zählen der Müdigkeitswarner, der Notbremsassistent, der Notfall-Spurhalteassistent, das Notbremslicht (flackerndes Bremslicht bei Gefahrenbremsungen) und der Rückfahrassistent (Abstandswarner oder Rückfahrkamera). Auch aus vielen Autos bekannt ist eine Ausprägung der Intelligent Speed Adaptation (ISA). Viele Fahrzeuge erkennen bereits über eine Kamera Straßenschilder und/oder beziehen geltende Geschwindigkeitsbegrenzungen aus dem Kartenmaterial des Navis. Ab Juli 2022 ist das System in allen neuen Fahrzeugtypen Pflicht, 2024 dann in jedem neu zugelassenen Pkw. Zur Debatte steht aktuell noch, wie stark das System eingreift.

Schon heute erkennen viele Fahrzeuge Tempolimits eigenständig. Foto: SEAT

„Die Forderung am Anfang war, eine Art Zwangsbremse einzuführen, so dass das Auto bei einem Tempolimit nicht schneller fahren kann“, sagt Andreas Rigling vom ADAC. Der Experte ist seit zwölf Jahren im Bereich Verbraucherschutz und Fahrzeugsicherheit tätig. Auch wenn sich „Zwangsbremse“ nach einer ablehnenden Haltung des Automobilclubs anhört, wolle man nicht, dass die Menschen zu schnell fahren. Im Gegenteil: Der ADAC wolle, dass verlässliche Technik ins Auto kommt. „Und die Systeme sind nicht immer zu 100 Prozent verlässlich“, erklärt Rigling.

Wenn man schon mal mit einem Auto mit Tempolimit-Erkennung gefahren ist, weiß man: Hundertprozentig zuverlässig wirken die Systeme in der Tat nicht. Der ADAC bekräftigt den Eindruck 2018 durch einem Test. Darum wurden drei ISA-Varianten diskutiert:

1. optische und akustische Warnungen
2. Anpassung der Gaspedalkennlinie, sodass das Beschleunigen erschwert wird
3. durch Drosseln der Motorleistung hartnäckige Unterbindung von Geschwindigkeitsverstößen.

Es wird sich wohl mehrheitlich die softe Variante 1 durchsetzen, wenn ISA ab Juli dieses Jahres verpflichtend bei Neufahrzeugen an Bord ist, auch aufgrund der Bedenken von Automobilclubs wie dem ADAC und seiner Expert:innen. Und unabhängig vom verbauten System soll es Fahrer:innen möglich sein, das System für den Rest einer Fahrt abzuschalten.

Das enttäuschte viele Interessensgruppen bereits im Winter 2020/2021: In einem gemeinschaftlichen offenen Brief an diverse Minister:innen der EU-Mitgliedstaaten fordern unter anderem Universitätsprofessor:innen, der Europäische Verkehrssicherheitsrat ETSC, der Europäischer Verband der Straßenverkehrsopfer (FEVR), ANEC – Die Stimme der europäischen Verbraucher, die internationale Vereinigung für Fußgänger und der Europäische Radsportverband (ECF), eine Verpflichtung der Hersteller, dass mindestens 99 Prozent der Tempolimit-Schilder erkennbar sein müssen. Die vollständige Deaktivierung solle zudem nicht möglich sein und akustische Warnungen seien unwirksam. 

„Unfälle mit Todesfolge geschehen meist aufgrund nicht angepasster Geschwindigkeit.“

Andreas Rigling, ADAC

Da stimmt auch der ADAC zu: „Das Thema Kundenakzeptanz ist ein wahnsinnig wichtiger Faktor. Assistenten sind während der gesamten Fahrtdauer präsent und wenn Kund:innen das nicht mögen oder die richtigen Einstellmöglichkeiten fehlen, dann schaltet sie das ab.“ Ein Beispiel sei etwa der Spurhalte-Assistent, den viele Fahrer:innen häufig deaktivieren. Die Gradwanderung zwischen den Varianten scheint so gut wie unmöglich, es gibt bei jeder Argumente dafür oder dagegen.

Ein  höheres Potenzial von den Fahrer:innen akzeptiert zu werden, könnten deshalb Assistenzsystemen haben, die die Geschwindigkeit über die Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit hinaus den Verhältnissen anpassen: „Die schwersten Unfälle mit Todesfolge geschehen meist aufgrund nicht angepasster Geschwindigkeit und nicht nötigerweise bei gleichzeitigem Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit.“ Ein gutes System müsse auch das Kartenmaterial den Kurvenverlauf kennen und in der Lage sein, einen Fahrer entsprechend zu warnen oder die Geschwindigkeit vor solchen Kurven anzupassen. „Das wäre noch effektiver, als schlichtweg nur die zulässige Höchstgeschwindigkeit anzumahnen“, sagt Andreas Rigling. 

Die ADAC-Empfehlung: prädiktive Systeme anzubieten, die die Geschwindigkeit den Kurven und Kreisverkehren anpassen. Foto: Mercedes-Benz AG

Bei derartigen intelligenten Systemen sähe der ADAC das wahre Potenzial, da sie nicht nur Tempolimits und Schilder berücksichtigen, sondern das Fahrverhalten zusätzlich anderen Rahmenbedingungen anpassen. “Dazu zählen auch vorübergehende Gefahrenstellen, die man mit Hilfe von Car2X-Kommunikation im Auto angezeigt bekommt. Dieses fortschrittliche System geht über die neuen Vorschriften weit hinaus.“

Auch bei höherer Trefferquote hält Rigling ein nicht übersteuerbares ISA-System für nicht sinnvoll: „In Notfallsituationen müssen Fahrer:innen Assistenzsysteme übersteuern können. Auch Spurhalte- und Notbremsassistenten kann man immer und aus sehr guten Gründen übersteuern.“ Der ADAC könnte auch Einfluss auf die Definition der „General Safety Regulation” der EU-Kommission gehabt haben, da seine Verbraucherschutztests zu Rate gezogen wurden. Es sieht so aus, als blieben menschliche Fahrer:innen vorerst in der vollen Verantwortung. Sie behalten ihre vermeintliche Freiheit, zu schnell zu fahren. Etwa um ein brav fahrendes, autonom gesteuertes Auto zu überholen

Wer sich etwa mehr vom verpflichtenden ISA-Einbau gehofft hat, darf sich über ein gemeinschaftliches Experiment der Stadt Rotterdam und BMW freuen: In sogenannten Safe Drive Zones werden Fahrer:innen darüber informiert, dass sie sich in einem Bereich mit potenziell besonders gefährdeten Verkehrsteilnehmer:innen befinden. Sollte dieses Experiment erfolgreich machen, könnte die nötige Software schnell in vielen neuen Fahrzeugen verfügbar sein.

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Adina Vălean

Adina Vălean

Sie leitet die Generaldirektion Mobilität und Verkehr der Europäischen Kommission. Im Mission Letter informierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Kommissarin Adina Vălean zu ihrer Amtsübernahme darüber, dass bei all ihren Prioritäten immer an die Notwendigkeit höchster Sicherheitsstandards zu denken sei, da der Verkehr zunimmt. Das konkrete Ziel Vision Zero 2050 wird nicht im gesamten Mission Letter nicht erwähnt. Dafür spielt das Klima darin eine wichtige Rolle.

Walter Röhrl

Walter Röhrl

Wir haben den Rallye-Welt- und -Europameister zwar nicht befragt, was er von der Intelligent Speed Adaptation hält. Das müssen wir auch nicht, denn wir können es uns eh denken. „Ein Auto ist erst dann schnell genug, wenn man morgens davor steht und Angst hat, es aufzuschließen“, sagte er einst. Ein andermal erinnerte er daran:  „Beim Beschleunigen müssen die Tränen der Ergriffenheit waagerecht zum Ohr hin abfließen.“ Keine Einwände, solange er sich dabei an das Tempolimit hält.