„Es gibt ganz wenige Madrids, Paris‘ oder Berlins, aber es gibt viele Erfurts“, sagt Tina Feddersen, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit des Bauhaus Mobility Labs. So wie Haßloch früher der Dreh- und Angelpunkt der deutschen Marktforschung war, könnte Erfurt Testgebiet für Mobilität werden. Denn Erfurt ist eine ganz normale Stadt mit etwas mehr als 200.000 Einwohner:innen und einer ähnlichen Struktur wie viele andere deutsche Städte auch. Damit ist die Stadt ein perfekter Ort für ein Reallabor, in dem Verkehrs- und Mobilitätsprojekte getestet werden können. Kern des Testgebiets ist der Stadtteil Brühl; hier soll besonders viel Infrastruktur aufgebaut werden.

Die Idee für das Reallabor entwickelten verschiedene Unternehmen gemeinsam. Mit dem Fraunhofer Institut als Forschungspartner bewarb sich das Konsortium auf eine Ausschreibung des Bundeswirtschaftsministeriums mit dem Titel „Künstliche Intelligenz als Treiber für volkswirtschaftlich relevante Ökosysteme“. Als eines von 15 Projekten wird das Bauhaus Mobility Lab seit April 2020 mit rund 20 Millionen Euro gefördert. Das Ergebnis ist eine in Deutschland bisher einzigartige Idee: ein „Lab as a Service“. Damit unterscheidet sich das Reallabor grundlegend von den bisherigen Testprojekten in Deutschland.

Reallabore sind dabei keine neue Erfindung. Der neuartige Aspekt ist das offene Bereitstellen des Experimentierraums – auch nach dem Förderzeitraum. Meist werden Reallabore oder Testprojekte für einen konkreten Zweck aufgebaut. Sei es der Test einer App, selbstfahrender Autos oder einer Dienstleistung. Nach einem definierten Testzeitraum werden die Reallabore wieder eingestellt und aufgebaute Technologie oft nicht weiter genutzt. Genau hier will das Bauhaus Mobility Lab ansetzen.

„Unternehmen können kommen und clevere Ideen erproben“

Oliver Warweg

Die in Erfurt installierte Infrastruktur soll weiterführend als eine Dienstleistung zur Verfügung stehen. „Wir wollen die Investitionen und Entwicklungen nicht nach drei Jahren ad acta legen“, so Warweg. Das Ziel sei eine Betreibergesellschaft aufzubauen, mit der Projekte aus Forschung und Entwicklung sowie von Industriepartnern im Reallabor noch mindestens zehn Jahre weitergeführt werden können. 

Der Kern des Projektes: „Wir wollen Daten und einen Experimentierraum bereitstellen, sodass andere Unternehmen mit cleveren Ideen kommen und diese erproben können“, erklärt Oliver Warweg, Konsortialleiter des Bauhaus Mobility Labs. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Themen Daten und KI – denn Daten seien die Basis für die Entwicklung von Dienstleistungen. „Die Daten alleine nützen mir nichts, ich muss die auch auswerten und da kommt das Thema KI ins Spiel“, so Warweg.

Konsortialleiter Oliver Warweg beim Technologietag des Bauhaus Mobility Labs

Siemens, Großkonzern und Industriepartner des Reallabors, nutzt den Experimentierraum schon. Die Firma erprobt aktuell inwieweit Straßenbahnen zum Ausliefern von Paketen genutzt werden könnten. Dafür lässt Siemens noch keine Pakete in Straßenbahnen verladen, sondern nutzt nur die Daten des Bauhaus Mobility Labs. In Zukunft könnten auch weitere Unternehmen den Experimentierraum nutzen. Damit das Projekt auch nach dem Förderzeitraum noch wirtschaftlich bleibt, würden dafür dann Kosten anfallen. Ein Projekt wie Dashbike, das eine Dashcam für Radfahrer:innen entwickelt hat, könnte diese hier unter Realbedingungen testen und vorhandene Infrastruktur zum Sammeln von Daten nutzen.

Den Experimentierraum nutzen allerdings nicht nur Industriepartner, auch interne Forschungsprojekte werden entwickelt. Philipp Viehweger ist Mitarbeiter im Bauhaus Mobility Lab und beschäftigt sich mit ITS, Intelligent Transport Systems, und Verkehrsplanung. Eines seiner aktuellen Projekte ist der Aufbau eines Forschungs-Knotenpunktes. „An diesem Knotenpunkt nutzen und testen wir verschiedenste Sensortechniken, um Verkehr zu messen“, erklärt Viehweger. Mit Drohnen, Induktionsschleifen und automatischen Videosystemen werde der Verkehr genau analysiert. Das Ziel: Ein möglichst exaktes Bild vom Verkehrsablauf erhalten. 

Mit den gesammelten Daten soll auch ein digitaler Zwilling des Forschungs-Knotenpunktes gebaut werden mit dem Verkehr simuliert werden kann. „Wir können zukünftig zum Beispiel eine grüne Welle bei 30 km/h simulieren und beurteilen welche Auswirkungen das hätte und wie das sinnvoll umzusetzen ist“, sagt Viehweger. Untersucht werden neben dem Verkehrsablauf insbesondere auch die Emissionen im Verkehr. Dafür werden in Erfurt vermehrt Emissions-Messstationen aufgestellt.

In einem anderen Modellprojekt wird mit dem Industriepartner HighQ zum Mobilitätsverhalten geforscht. Genauer: Wie lässt sich das Mobilitätsverhalten beeinflussen? Mithilfe einer App, entwickelt von High Q, kann getrackt werden, mit welchem Fortbewegungsmittel sich die Nutzer:innen bewegen. Mit Incentivierungen sollen Bürger:innen zum Umstieg auf nachhaltigere Fortbewegungsoptionen bewegt werden. „Nutzer:innen bekommen je nach Wahl des Verkehrsmittels einen Score zugewiesen und können Bonuspunkte sammeln“, erklärt Viehweger. Wie bei Payback könnten diese Bonuspunkte dann lokal genutzt werden. 

„Das Thema KI verschreckt viele Menschen“

Tina Feddersen

Selbstverständlich lässt sich das Reallabor nicht ohne Nutzer:innen realisieren. Und das sind in diesem Fall die Bewohner:innen des Stadtteils Brühl beziehungsweise Erfurts. Eine gründliche Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit ist für das Reallabor deshalb essentiell. „Wir wollen natürlich die Mobilitätsservices erproben, aber wir brauchen auch das Feedback, um das zu machen. Das macht es ein bisschen besonders“, sagt Warweg. Zu diesem Zweck wurde eigens eine App entwickelt. Bewohner:innen erhalten die App und können dort konkrete Experimente auswählen, an denen sie teilnehmen wollen. Der fertiggestellte Prototyp steht kurz vor der Auslieferung.

Doch nicht alle Bewohner:innen von Erfurt sind begeistert von dem Projekt. Die Komplexität des Themas sei dabei ein Problem, sagt Frau Feddersen. „Ein Interesse ist durchaus vorhanden, aber insbesondere bei den Themen KI und Daten sind viele Menschen etwas verschreckt.“ Das Wort KI soll deshalb auch in der Ansprache der Bewohner:innen nicht mehr genutzt werden. Die Herausforderung: Bewohner:innen motivieren und gleichzeitig zukünftige Kund:innen ansprechen. Denn letztlich gehe es bei dem Projekt ja um die Menschen, sagt Tina Feddersen.

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Aspern Mobility Lab Wien

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Das Reallabor für neue urbane Mobilität beschreibt sich selbst als „Neighbourhood Mobility Lab“. Wie beim BML sollen Mobilitätslösungen  unter Einbeziehung aller erforderlichen Stakeholder und mit den Bewohner:innen des  Wiener Stadtteils Seestadt Aspern entwickelt und getestet werden. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf Startups.

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Lelia König und Sandro Beck haben das Unternehmen Dashbike gegründet. Mit einer Kamera, GPS-Sender und Abstandssensoren im Rücklicht wollen sie das Radfahren sicherer machen. Erste Testfahrten wurden in Leipzig gemacht. In Zukunft könnte ein solches Produkt auch in Erfurt getestet werden.