Mit dem Design eines Produkts legen seine Entwickler:innen den Grundstein für dessen ökologischen Fußabdruck und Nutzen. Das ist bereits bei einer Zahnbürste eine Herausforderung und wird um so komplexer, je größer das Produkt wird. Was also, wenn man gleich ein ganzes Mobilitätskonzept auf die Beine stellt? Da hilft nur: eng zusammenarbeiten. So wie Marc Schindler von Ottobahn und Dominik Meier von NVGTR (sprich: Navigator). Das 2019 gegründete Unternehmen Ottobahn will schon in einem Jahr die ersten Passagier:innen mit einer vollautomatisierten Hängebahn befördern. Im Blick hat es dabei die Verkehrswende und die damit einhergehende Ressourcensparsamkeit, und hier kommt NVGTR ins Spiel.

Aber beginnen wir von vorne: „Ein Kilometer S-Bahn kostet mindestens 15 Millionen Euro, ein Kilometer Ottobahn nur fünf“, erklärt Ottobahn-Chef Marc Schindler. Die Hängebahn soll entweder über bestehender Infrastruktur gebaut werden oder Platz machen für Neues. „Alles würde sich oberhalb des unmittelbaren Lebensraums abspielen, wo dann statt Gleisen Grünanlagen Platz hätten. Ein Gewinn für alle.“

In den kleinen Gondeln ohne Fahrer:in, die on demand an einer oberirdisch geführten Schiene lautlos anschweben, gelangt die Kundschaft an Ziel. Emissionsfrei dank Photovoltaik und Elektroantrieb, natürlich intelligent gesteuert und vollautomatisiert. So weit, so zeitgemäß für ein Start-up. Schindler scheint sich dessen bewusst, dass ein zukunftsfähiges Mobilitätskonzept jedoch noch einen weiteren entscheiden Schritt erfüllen muss: Er will das gesamte Produkt im Sinne des so genannten Circular Designs zum Leben erwecken. Ressourcen sind zu schonen, Bauteile sollen haltbar, mehrfach verwendbar und mit geringem Aufwand rückführbar sein. Ein Kreislauf, der so wenig Spuren wie möglich hinterlässt.

„Wir wollen damit Geld verdienen“

Marc Schindler, Ottobahn

Geringe Wartungskosten dank haltbarer Bodenverankerungen und Masten spielen ebenfalls eine große Rolle, denn am Ende soll das Ganze nicht nur gut aussehen, sondern auch preislich konkurrieren können. „Wir wollen damit Geld verdienen“, sagt Schindler. Darum sollen auch die Betriebskosten minimiert werden: Ottobahn entwickelt einen besonders reibungsarmen Antrieb und luftwiderstandsarme Gondeln, deren Bewegung möglichst wenig Energie benötigt. Da zählt jedes einzelne Kilo Gewicht. Etwa das der Sitze.

Der von NVGTR beigesteuerte Sitz soll aus nur fünf Teilen bestehen. Grafik: Ottobahn

Die passenden findet Schindler im Sommer 2021 bei der Designagentur NVGTR: „Bis dahin kannten wir sie noch gar nicht.“ Dafür aber das Team von NVGTR längst die Idee des Circular Designs. Die Agentur zählt sich zu den Pionieren dieses Ansatzes. Unter dem Motto „Tangible Visions“ sollen Produkte entstehen, die nicht nur gut aussehen, sondern sich auch auf den freien Markt bringen lassen. „Auch der gemeinsam mit der Grammer AG entwickelte SLS-Sitz für den Nah- und Regionalverkehr war zu diesem Zeitpunkt bereits bis zur Marktreife entwickelt“, sagt Dominik Meier, Creative Director bei NVGTR. 

SLS steht für Super Lightweight Seat. Er wiegt 60 Prozent weniger als ein herkömmliches Exemplar im Nahverkehr. Es kommen fünf Bauteile aus drei Materialien zum Einsatz – bei einem aktuell gängigen sind es 50 Bauteile; der Bezug lässt sich einfach tauschen und verlängert so die Lebenszeit des Gestells um mehrere herkömmliche Zyklen. Und es geht noch weiter: Individuell gewebte Teile verringern den sonst üblichen Verschnitt bei der Verwendung von Stoffbahnen. Spezielle Algorithmen halfen in der Entwicklung dabei, so wenig Material wie möglich für eine stabile und zugleich bequeme Konstruktion einzusetzen. NVGTR berechnet für den SLS bei flächendeckendem Einsatz in Europa ein CO2-Kompensationspotenzial von 10 Millionen Bäumen. Gleichzeitig seien die Produktionskosten um 30 Prozent niedriger als derzeit üblich. 

„Es wäre dumm, wenn man nicht in ein partnerschaftliches Modell geht“

Dominik Meier, NVGTR

Hier zeigt sich übrigens ganz nebenbei, wie verhältnismäßig junge und kleine Unternehmen wie Start-ups zusammen mit den Fachexpert:innen alteingesessener Firmen wirklich innovativ sein können. Darum könne Design, das maximal ressourcenschonend und langfristig nutzbar ist, künftig nur als interdisziplinäres Vorhaben erfolgen, sind sich Meier und Schindler einig. Egal, ob es die Zahnbürste oder ein potenzieller Game Changer der Mobilität ist. Die Entwicklung dürfe „nicht in einem Elfenbeinturm alleine gedacht und durchgezogen werden. Man benötigt Teams, die in der Lage sind, ganz unterschiedliche Perspektiven an den Tisch zu bekommen. Nur so kann echte Kreislaufwirtschaft daraus werden“, sagt Meier. Auch für Schindler ist das der Weg künftiger Produktentwicklungen: „Es wäre dumm, wenn man nicht in ein partnerschaftliches Modell in so einem Konstrukt geht. Das Rad ist schon mehrfach erfunden worden. Es geht darum, Dinge, Technologien, Lösungen, die es auf dieser Welt gibt, vernünftig zu einer Gesamtlösung zusammenzubauen.“

Über den Straßen Münchens. Grafik: Ottobahn

Darum sprechen beide miteinander längst nicht mehr nur über den perfekten Sitz, sondern über alle Aspekte der nunmehr gemeinschaftlichen Entwicklung der Ottobahn, um mit ihr die Mobilität in der Stadt menschengerechter und konkurrenzfähig zu machen. Denn: Die Bahn ist nur ein Element im Ökosystem „urbaner Raum“ und soll von Nutzen für möglichst viele sein. So ließe sich über die Konstruktion, die sich nach den Vorstellungen von Schindler eines Tages weit in eine Stadt verzweigt, etwa Glasfaserleitungen führen und Photovoltaik über den eigenen Energiebedarf hinaus installieren. Die Ottobahn könnte so zum Teil des Smart Grid werden, und auch der Transport von Waren ist angedacht. Moose könnten überdies einen Beitrag zur Filterung der Luft leisten, weitere Begrünung verbesserte künftig die CO2-Bilanz, die idealerweise sogar positiv ausfiele.

In wenigen Tagen wird das Ottobahn-Konzept der Öffentlichkeit präsentiert. Erste Testfahrten der Bahn sollen Ende des Jahres starten, der Bau einer Demonstrationsanlage in Taufkirchen bei München ist bereits genehmigt. Die ersten Menschen an Bord sollen im Frühling 2023 auf den Circular-Design-Sitzen von NVGTR Platz nehmen.

Want to know more?

Marc Schindler

Marc Schindler

Nach mehreren Stationen in der Automobilindustrie zog es Marc Schindler in ein AI-Unternehmen ins Silicon Valley. Dann wurde er MD eines Fertigungs- und Logistik-Unternehmens bevor er 2019 zu Ottobahn ging.

Dominik Meier

Dominik Meier

Nach einem Studium im Bereich Industrie- und Produktdesign ist Dominik Meier als Industrial Designer tätig gewesen. Bereits seit 2016 ist er Creative Director bei NVGTR, ein Jahr später wurde er Partner.