Urbane Seilbahnen: Warum Deutschland am Boden bleibt
In vielen Städten wird über urbane Seilbahnen geredet, aber nie gebaut. Unser Gastautor erklärt, was sich ändern muss
Woran denkst du als erstes beim Begriff E-Mobilität? Klar, an E-Autos. Natürlich auch an E-Bikes, vielleicht sogar an E-Scooter oder Züge. Aber an Seilbahnen? Wohl eher nicht. Dabei zählt auch die Seilbahn als elektrisch betriebenes Verkehrsmittel zu dieser Gruppe. Dazu punktet sie in Sachen Nachhaltigkeit durch den geringen Grad an Bodenversiegelung, bietet niedrige Geräuschemissionen und Verbindungen in direkter Luftlinie. Außerdem bieten Seilbahnen die Vorzüge der sogenannten Stetigförderung – Goodbye Fahrplan!
Aufgrund dieser Vorteile wird die Seilbahn immer wieder als attraktive Option für den ÖPNV in die Debatten vieler deutscher Ratssäle gebracht. Allein: Heute mit einer Seilbahn beispielsweise zum Einkaufen fahren und dafür nur die ÖPNV-Monatskarte zücken, das geht in Deutschland bislang nicht. Woran liegt es, dass städtische Seilbahnen immer wieder projektiert, evaluiert und hitzig debattiert werden – aber nie gebaut? Und wie lässt sich das ändern?
Zugegeben, wer in deutschen Städten Seilbahn fahren will, kann das auch schon heute tun, etwa in Berlin, Koblenz oder Köln. Doch diese Beispiele unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt von den Seilbahnen, die aktuell zwischen Kiel und München als Ergänzung des bestehenden öffentlichen Nahverkehrs diskutiert werden. Sie wurden nämlich nicht als vollwertiges Verkehrsmittel für den ÖPNV konzipiert, sondern aus touristischen Gründen anlässlich einer Gartenschau errichtet. Seilbahnen für städtische und meist temporäre Großprojekte einzusetzen, war und ist eine beliebte Einsatzmöglichkeit – demnächst wieder auf der BUGA 2023 in Mannheim zu erleben.
Den großen Potenzialen von Seilbahnen im städtischen Raum wird mit den Gartenschau-Seilbahnen allerdings nur bedingt Rechnung getragen. Das haben auch viele deutsche Städte einschließlich des Bundesverkehrsministeriums erkannt und arbeiten auf unterschiedlichen Wegen an der Umsetzung von echten urbanen Seilbahnen. Also von Seilbahnen, die Fahrgäste mit gültigem Nahverkehrsticket zuverlässig und komfortabel von A nach B transportieren, wie es Bus und Bahn heute schon tun. Doch über Willensbekundungen und Machbarkeitsstudien ist bisher noch keine Seilbahn-Planung in Deutschland hinausgekommen.
Dabei wäre ein gleichberechtigter Einsatz von Seilbahnen neben Bussen, Straßenbahnen und U-Bahnen kein Novum. Der Siegeszug der urbanen Seilbahn hat seinen Anfang in Südamerika genommen. Vielerorts gab es dort keinen oder kaum ÖPNV. Zudem waren die Städte bereits dicht besiedelt und neue ÖPNV-Achsen am Boden praktisch nicht umsetzbar. Die Nutzung der Plus-Eins-Ebene, also über dem Boden, war darum eine logische Folge. So schuf man die Voraussetzungen das etablierte, aber bis dahin vorzugsweise im alpinen Raum eingesetzte Verkehrsmittel der Seilbahn, einem neuen innovativen Einsatzzweck über den Dächern von Medellín, La Paz und Co. zuzuführen. In den letzten 20 Jahren wurde die Seilbahn in vielen Städten Süd- und Mittelamerikas zum alltäglichen Verkehrsmittel von Millionen von Menschen.
Freilich sind die oftmals von starken topographischen Herausforderungen geprägten Metropolen Süd- und Mittelamerikas nicht mit Leipzig, Oberhausen oder Hannover vergleichbar. Und anders als dort gibt es in deutschen Städten bereits vergleichsweise gut ausgebaute ÖPNV-Angebote. Warum wird also in Deutschland überhaupt über urbane Seilbahnen nachgedacht? Die Antwort liefert ein Blick in unsere Nachbarländer. In den Niederlanden, der Schweiz, Polen und Frankreich sind urbane Seilbahnen bereits im Einsatz oder in Planung. Allen voran Frankreich gilt in Europa als führend, wie Projekte in Brest, Toulouse oder Paris zeigen.
Dort kommen Seilbahnen zum Zug, wenn sie ihren augenscheinlichen Systemvorteil ausspielen können: den eigenen Fahrweg in der Luft. Das ist vor allem dann der Fall, wenn eine Verbindung aufgrund von Hindernissen am Boden – wie Flüsse und Naturschutzgebiete, Gewerbegebiete oder bestehende Infrastrukturen wie Autobahnen, Schienentrassen oder Versorgungsleitungen – mit herkömmlichen Verkehrsträgern nur teurer oder gar nicht zu überwinden wären.
„Seilbahnen passen nicht ins Schema F“
Dominik Berndt, Initiator Cable Car World
Tatsächlich sind solche Konstellationen in nahezu allen Großstädten auch in Deutschland zu finden. Meist leicht daran zu erkennen, dass es dort aufgrund schwieriger räumlicher Voraussetzungen bisher kein ausreichendes ÖPNV-Angebot gibt. Seilbahnen können hier durch neue Verbindungsmöglichkeiten in direkter Linie ansetzen. Großstädte wie Bonn, Frankfurt, Herne oder Stuttgart haben dieses Potential erkannt und prüfen deren Einsatzmöglichkeiten. Damit nicht mehr wie bislang üblich jede Kommune beim Evaluierungsprozess von vorne anfangen muss, erarbeitet das Bundesverkehrsministerium derzeit einen Leitfaden mit verbindlichen Informationen für die Implementation urbaner Seilbahnen.
Die Gelegenheit für die erwähnten Städte ist günstig, sich als Vorreiterin zu positionieren. Seilbahnen im ÖPNV sind in Deutschland ein bisher kaum erprobtes Vorhaben, sie passen nicht ins Schema F, sondern erfordern ein hohes Maß an Offenheit und Mut. Mut, der sich lohnt! Das zeigen weltweit etliche Beispiele und das gilt selbst für die deutschen Gartenschau-Seilbahnen. In Koblenz beispielsweise erfreut sich die Seilbahn mittlerweile so großer Beliebtheit, dass ihr geplanter Rückbau bereits mehrfach verschoben wurde. War die Bevölkerung vor dem Bau äußert skeptisch, tritt sie nun für den Erhalt ein. Ein Resultat, dass dem Durchsetzungswillen und Mut der handelnden Akteure entsprungen ist.
Es fehlt also nicht an Ansätzen, ebenso wenig an guten Gründen und auch nicht an Anwendungsbeispielen, wenn man den Blick nur etwas weitet. Gleichwohl sind bisherige Vorhaben am Ende nie umgesetzt worden. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Nicht selten wurde die Seilbahn als die große Lösung städtischer Verkehrsprobleme ins Spiel gebracht, ein Anspruch, dem weder sie noch andere Verkehrsmittel gerecht werden können. Das meist fehlende Wissen im Umgang mit den Möglichkeiten und Grenzen urbaner Seilbahnen hat sich auch in unzureichenden Bewertungsmaßstäben für Seilbahnen als öffentliches Verkehrsmittel niedergeschlagen.
Die positiven Aspekte der Seilbahn können bisher nicht adäquat in den herkömmlichen Kosten-Nutzen-Analysen abgebildet werden. Hinzu kommt, dass die Sensibilität der Bevölkerung bei Infrastrukturvorhaben oftmals sehr hoch ist, hier machen Seilbahnen keine Ausnahme. Eine Mobilitätsform über den Köpfen ist etwas neues, was einen besonderen Anspruch an die Kommunikation eines solchen Vorhabens stellt. Hieraus ergeben sich auch neue Herausforderungen für die Städte, wie die Frage nach dem Umgang mit dem Überflug von Grundstücken auf der geplanten Achse.
Erst allmählich wird offensichtlicher, wie die Einsatzmöglichkeiten urbaner Seilbahnen in Deutschland aussehen können. Hierbei ist es wichtig immer verschiedene Systeme für einen Anwendungsfall ergebnisoffen zu vergleichen und keine vorher feststehende Lösung unabhängig ihrer Eignung zu protegieren – was leider noch oft genug passiert. Aktuell läuft daher eine umfassende Novellierung der für den Systemvergleich maßgebenden Standardisierten Bewertung. Das Ziel: Kosten und Nutzen auch von Seilbahnen sollen gerechter und zeitgemäßer bewertet werden.
Seilbahnen können Teil eines multimodalen Verkehrsangebotes sein und haben ihre sinnvollen Einsatzfälle, sind aber kein Allheilmittel. Gleichwohl sind ihre Stärken wie das Überfliegen von Hindernissen eine exklusive Besonderheit, die in manchen Situationen hohen Nutzen erzeugen können. Aus den bisher nicht umgesetzten Beispielen wie den zahlreichen Best-Practice-Beispielen aus dem Ausland können viele Lehren gezogen werden. Klar, wer nach Gegenargumenten sucht, wird sie immer finden – aber dabei auch Chancen verpassen, die Verkehrswende im ÖPNV umfassender zu denken als eine reine Antriebswende. Allen voran braucht es darum Mut, Neuem gegenüber offen zu sein und Wege zu finden, sich die Vorteile des Neuen an geeigneten Stellen zu Nutze zu machen.
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Dominik Berndt
Das Potenzial urbaner Seilbahnen für die Verkehrswende sei massiv unterschätzt, sagt der studierte Raumplaner Dominik Berndt. Das will er ändern und gründete im Jahr 2021 Cable Car World. Die Konferenz-Messe bringt am 21. und 22. Juni 2022 in Essen die Branche mit Standplaner:innen und Wissenschaftler:innen zusammen.
Gerald Pichlmair
Zusammen mit Dominik Berndt baut Gerald Pichlmair die Cable Car World auf. Der Salzburger widmet sich schon lange dem Thema urbane Seilbahnen und bringt seit 2014 Fachmagazin SI URBAN heraus.