Das Jahr 2050 aus Sicht der Autohersteller
Wie bewegen wir uns übermorgen in den Städten? Automobilhersteller versuchen, die Mobilität der Zukunft zu erforschen. Ein Blick in ihre geheimen Forschungslabore
Mit Prognosen ist das so eine Sache: Kaiser Wilhelm II. hielt das Automobil Anfang des 20. Jahrhunderts für eine vorübergehende Erscheinung. Bill Gates meinte vor 40 Jahren, mehr als 640 Kilobyte Speicher werde kein Mensch je brauchen. Und der Computerentwickler Robert Metcalfe sagte 1995 voraus, dass das Internet binnen zwölf Monaten kollabieren werde.
Irren ist menschlich, aber gefährlich – vor allem, wenn Milliarden auf dem Spiel stehen wie in der Automobilbranche, die durch die radikalste Transformation ihrer Geschichte geht. Und weil sie einen maßgeblichen Anteil daran hat, ob wir die Klimakrise überwinden. Viele Hersteller leisten sich eine breit aufgestellte Zukunftsforschung; sie soll ihnen ein Bild davon vermitteln, wie die Mobilität von morgen aussehen kann. Hier geht es nicht um Technologien – autonom fahrende Zero-Emission-Autos gelten längst als gesetzt. Im Fokus der Zukunftsforschung stehen Trends und Szenarien. Welche Dynamik steckt in Künstlicher Intelligenz? Wie stark wird Sharing wachsen? Welche Werte und Erwartungen entwickeln relevante Gruppen und ganze Gesellschaften?
„Parkraum wird wieder zu Grünflächen. Wir gewinnen Lebensqualität zurück.“
Nikolai Ardey, Leiter Volkswagen Group Innovation
Im VW-Konzern leitet Nikolai Ardey die Volkswagen Group Innovation. Ihre Experten werten laufend einen immensen Datenschatz aus weltweiten Finanzströmen, Patenten und Veröffentlichungen aus. In ihm suchen sie mithilfe Künstlicher Intelligenz nach Signalen, die zu Trends, Aufbrüchen und Umbrüchen führen können. In Ländern wie Israel, den USA und China betreibt die Group Innovation Forschungszentren und Inkubatoren. „Wir haben uns ein starkes Netzwerk aufgebaut“, sagt Ardey. „Damit sind wir nah dran, wenn Startups entstehen, wenn es interessante Forschungsergebnisse von Universitäten gibt oder sich ein neues Ökosystem formt.“
Und wie wird die Mobilität der Zukunft aussehen? „Für 2050 rechnen wir mit einer CO₂-neutralen Welt, smarter Energieversorgung, vollvernetzter Mobilität und flächendeckender Verfügbarkeit von autonomem Fahren. Wir arbeiten auf ein vollständig integriertes Mobilitätssystem hin, in dem alles wie am Schnürchen läuft. Es wird ein Mix aus Micromobility, Robotaxis, öffentlichem Nahverkehr und individueller Mobilität sein. Ampelkreuzungen werden überflüssig, Autos parken sich selbst und in vertikaler Anordnung mit geringerem Flächenverbrauch. Städte werden leiser, Parkraum wird wieder zu Grünflächen, wir gewinnen Lebensqualität zurück.“
„Öffentlicher Lebensraum ist knapp, deshalb wird es immer wichtiger, ihn effektiver zu managen“
Monika Dernai, Teamleiterin Urbane Mobilität, BMW Group
Besser leben in den Städten durch intelligentes Verkehrsmanagement – dieser zentrale Gedanke bewegt auch die BMW Group. In der Unternehmensstrategie für Nachhaltigkeit und Mobilität leitet Monika Dernai das Team Urbane Mobilität. „Viele Städte wollen den öffentlichen Raum lebenswerter gestalten“, sagt sie. „Aber er ist knapp, deshalb wird es immer wichtiger, ihn effektiver zu managen. Dabei spielen digitale Lösungen eine wachsende Rolle, beim Parken und im fließenden Verkehr. Die Angebotslücke, die zwischen dem eigenen Auto und dem öffentlichen Verkehr liegt, lässt sich mit On-Demand-Angeboten wie Car-Sharing, E-Scooter-Sharing oder Ride-Pooling schließen. Mobilitäts-Hubs werden die Städte mit dem Umland verbinden.“
Ein ähnliches Szenario entwirft Marianne Reeb, die bei der Mercedes-Benz Group die Trend- und Zukunftsforschung leitet. „Ein Schlüsselaspekt in den Städten wird die gemeinsame Nutzung von Räumen sein. Wenn Autos autonom fahren und mit der Umwelt vernetzt sind, können alle Teilnehmer die Verkehrswege gemeinsam und sicher nutzen. Öffentliche Verkehrsmittel werden eine größere Rolle spielen als heute, und Mobility Hubs können für den nahtlosen Übergang von einem Verkehrsmittel zum anderen sorgen – ob Leihfahrrad, Shuttle oder Seilbahn.“
Das Auto darf sich weiterhin nützlich machen, schlägt Marianne Reeb vor: „Mit ihrer hohen Rechenkapazität könnten Autos Infrastruktur-Aufgaben übernehmen. Sie beobachten mit ihren Kameras ohnehin permanent das Umfeld, da könnten sie Schlaglöcher oder andere Probleme an die Straßenmeisterei melden. Oder sie können ihre Rechenpower Dritten zur Verfügung stellen, wenn sie gerade nicht in Betrieb sind.“
Bill Gates hat sich zwar geirrt, zum Glück. Aber mit einigen Szenarien für die Mobilität der Zukunft könnten wir gut leben.
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Marianne Reeb
Marianne Reeb trat 1995 in den damaligen Daimler-Benz-Konzern ein. Als Managerin im Bereich Research & Development verantwortet sie heute die Zukunftsforschung des Konzerns wesentlich mit; ein Schwerpunkt ihrer Forschungsarbeit sind Mobilitätskonzepte. Daneben lehrt die promovierte Diplombetriebswirtin, die in Berlin und Stuttgart lebt, als Honorarprofessorin am Studiengang Kulturarbeit der FH Potsdam.
Nikolai Ardey
Ardey begann seine Laufbahn als Motoren-Ingenieur, seine Promotion befasste sich mit Verbrennung und Flammenausbreitung. 18 Jahre lang arbeitete er in der Technischen Entwicklung der BMW AG, dann wechselte er als Leiter der Antriebsentwicklung zu Audi. Anfang 2020 übernahm Nikolai Ardey die Leitung der Volkswagen Group Innovation. Dort widmet er sich Themen wie Dekarbonisierung, Sicherheit, Ressourcenschonung und neuen Mobilitätsmodellen.