Was bedeutet die Verkehrswende für dich?

Als Zugfan liegt mir vor allem der Ausbau des Eisenbahnverkehrs am Herzen. Ich wünsche mir eine Welt, in der man auf kurzen wie auf langen Strecken wieder ganz selbstverständlich den Zug nimmt. Auf europäischer Ebene sind Nachtzüge dabei ein ganz wichtiger Baustein. Gibt es eine elegantere Art, von Wien nach Paris oder von Hamburg nach Stockholm zu reisen? Mich macht es sehr glücklich, dass der Nachtzug wieder im Kommen ist – auch wenn für ein echtes Europanetz noch manche Hürde zu nehmen ist.

In der Pandemie ist mir aber noch etwas klar geworden: Wie sehr wir uns dem Auto unterwerfen. Wenn ich vom Home Office vor die Tür trete, sehe und höre ich nur noch eins: Autos. Sie sind laut, sie sind stressig, sie verstopfen unsere Städte. Und sie werden immer größer, was absurd ist. Ich frage mich zunehmend, warum wir uns das eigentlich bieten lassen. Verkehrswende heißt für mich darum auch, den motorisierten Individualverkehr so weit wie möglich zurückzudrängen. Und zwar bevor wir auch nur eine Sekunde über Technologie nachdenken. Ich behaupte: Jedes zweite Auto kann weg. Was dann noch bleibt, muss natürlich elektrifiziert werden.

„Für Dogmatismus haben wir keine Zeit“

Sebastian Wilken

Wie sieht dein persönlicher Mobilitätsmix aus?

Ich bin kurz vor Ostfriesland aufgewachsen und damit auf zwei Rädern. Bis heute ist das Fahrrad für mich Verkehrsmittel Nummer eins. Den ÖPNV nutze ich, wann immer mein Drahtesel nicht zur Verfügung steht, zum Beispiel auf Reisen. Um längere Strecken zurückzulegen, nehme ich – Überraschung – natürlich den Zug. Meine jährlichen Autofahrten kann ich an zwei Händen abzählen, ein eigenes Auto habe ich nie besessen. Und Fliegen? Mein einziger Flug war als Kind mit dem Inselflieger nach Wangerooge, und ich habe nicht vor, daran etwas zu ändern.

Und wie sollte er aussehen, damit du zufrieden bist?

Nach der Pandemie darf gerne wieder die ein oder andere größere Zugreise dazukommen, ansonsten bin ich ganz glücklich.

Hast du eine Agenda, die du mit deinem Profil verfolgst?

Ich bin in meine Rolle als Zugaktivist irgendwie hineingeraten, einen großen Masterplan dahinter gibt es nicht. Generell verfolge ich eher einen positiven Ansatz, das heißt, Begeisterung fürs Zugreisen wecken statt ans Gewissen zu appellieren oder moralisch zu argumentieren. Mit Begriffen wie „Flugscham“ oder „Zugstolz“ arbeite ich darum nicht.

Wie gehst du mit Hatern um?

Gar nicht, ich ignoriere und blocke. Nichts nervt diese Leute mehr, als keine Aufmerksamkeit zu bekommen.

Die aktuell größte Herausforderung in der Mobilitätswende ist …?

Lobbyismus. Es ist unglaublich schwierig, progressive Politik gegen die Interessen von Industrie und Wirtschaft zu machen. Die Menschen sind oft schon viel weiter. Dass es zum Beispiel eine recht stabile Mehrheit für ein Tempolimit gibt, dieses aber gegen ein gewisses Klientel politisch nicht durchsetzbar ist, halte ich für gefährlich. Ein speziell deutsches Problem ist die „Das haben wir schon immer so gemacht“-Haltung, die es Innovationen im Verkehr oft schwer macht.

Deine Forderung(en) an …

… die Politik?

Wir stehen am Beginn einer Klimakatastrophe, die unsere Zivilisation bedroht. Ich verlange von der Politik, alles zu tun, um das Schlimmste noch abzuwenden. Für Dogmatismus haben wir keine Zeit, was wir brauchen sind schnelle, pragmatische Lösungen. Ob das Verbote oder Anreize sind, ist egal, Hauptsache es passiert etwas. In Bezug auf Mobilität wünsche ich mir konkret, dass Hürden im grenzüberschreitenden Zugverkehr abgebaut werden. Wir müssen Eisenbahn wieder europäisch denken. Eine Idee, die mir gefällt, ist die Beschaffung eines europäischen Nachtzug-Pools. Dazu gehört auch: Die Deutsche Bahn muss ihre Blockade-Haltung in Sachen Nachtzug umgehend aufgeben.

… die Wirtschaft?

Hört auf zu jammern und seid kreativ. Deutschland ist zurecht stolz auf seine pfiffigen Ingenieur:innen. Doch statt den letzten Knopf im SUV durch einen Touchscreen zu ersetzen, denkt lieber über pragmatische Lösungen für die Verkehrswende nach. Und nein, damit meine ich nicht Flugtaxis.

… die Mobilitätsnutzer:innen?

Ich bin kein Freund davon, die Verantwortung fürs große Ganze auf den Einzelnen abzuschieben. Darum nur so viel: Seid laut. Seid mündig. Lasst euch keine Märchen erzählen. Und fragt eure Abgeordneten:innen, was sie konkret für die Verkehrswende vor Ort tun.

Finnland sei das Paradies für Zugreisende, sagt Sebastian Wilken. Hier gebe es in Tag- und Nachtzügen reichlich Angebote zum Essen, Schlafen, Arbeiten oder Spielen

Wer ist in Sachen Verkehrswende gerade richtig gut unterwegs?

Das Engagement der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) für den Nachtzug kann man nicht genug loben. Dass es in Mitteleuropa nach dem Ausstieg der Deutschen Bahn 2016 überhaupt noch Nachtzüge gibt, ist allein dem Mut der Österreicher zu verdanken. Wenn ich an Personen denke, kommt mir Katja Diehl (hier im FUTURE MOVES Podcast) in den Sinn. Ich bewundere ihren unermüdlichen Einsatz für die #Autokorrektur, allem Widerstand zum Trotz.

Welchen Menschen in der Mobilitätsbranche sollte man – neben dir – folgen?

Ich sehe mich nicht als Teil der Branche, kenne mich daher nicht aus. Einen Tipp habe ich aber dennoch: Wer ein Herz für gepflegtes Reisen hat, sollte unbedingt @_DiningCar auf Twitter folgen.

Gibt es einen Ort, der für dich die Zukunft der Mobilität erlebbar macht?

Ein Zug in Finnland. Die finnische Bahn zeigt mit ihren modernen Tag- und Nachtzügen, wie die Zukunft des öffentlichen Verkehrs aussehen kann. Egal ob Essen, Schlafen, Arbeiten oder Spielen mit den Kids – an Bord ist an alle gedacht. Die Eisenbahn muss die Reisenden in ihren vielfältigen Bedürfnissen ernst nehmen, anstatt sie nur in möglichst hoher Packungsdichte von A nach B zu transportieren. Nur so wird der Umstieg gelingen.

Dein bislang hoffnungsvollster Mobilitätswende-Moment?

Was mich mit Freude erfüllt: Wenn nach Jahren des Niedergangs heute wieder neue Nachtzug-Verbindungen eröffnet werden. Ein Beispiel ist der neue Nachtzug der schwedischen Bahn von Hamburg nach Stockholm. Im Blog und den sozialen Netzwerken haben wir die Entstehung des Zug von Anfang an begleitet. Wenn es nun im Sommer tatsächlich zur Premierenfahrt kommt, wird das ein bewegendes Ereignis sein.

SEBASTIAN WILKEN 

Schon seit seiner Kindheit ist Sebastian Wilken von Eisenbahnen fasziniert. Gut, das sind viele, doch die wenigsten machen daraus ein Hobby. Seit 2017 betreibt er Train Tracks, einen Blog über nachhaltiges Reisen mit der Eisenbahn, auf dem er und eine Reihe von Gastautoren über ihre Zugreisen berichten. Außerdem teilt er über Twitter die wichtigsten News und aus der Szene.