Mit Hunderten Autohäusern zur Mobilitätswende
Bis 2025 könnten bis zu 50 Prozent aller Autohäuser verschwinden. Mobilitätshaus-Chef Christoph Golbeck will sie retten – und sie dafür zu Transformationsagenturen umbauen
Wenn im Autohaus Golbeck in Berlin-Friedrichshain heute die Sektkorken knallen, besteht keine Gefahr, dass im Showroom ein Auto eine Beule abbekommen könnte. Denn dort steht seit vergangenem Jahr kein einziges mehr. Autos raus, Lastenräder und Mobilitätsberatung rein – die 180-Grad-Drehung, die das Haus im vergangenen Jahr vollzog, war für Chef Christoph Golbeck eine logische Entscheidung, um das eigene Angebot an die Anforderungen der modernen, nachhaltigen Mobilität anzupassen – und so den Fortbestand des Standorts mitten in Berlin zu sichern.
Wohl aber auch eine Entscheidung, vor der viele Autohändler, meist Familienunternehmen in mehreren Generationen, noch zurückschrecken. Die Gefahr ist allerdings groß, dann auf der Strecke zu bleiben: Das Beratungsunternehmen EY schätzt, dass bis 2025 bis zu 50 Prozent der Häuser vom Markt verschwinden könnten. Die Gründe sind vielfältig: geänderte Kundenwünsche und -ansprüche an umweltfreundlichere Fortbewegung im urbanen Raum, geringere Umsätze im Service durch die wartungsärmeren E-Autos und die Rückeroberung von Erlösanteilen seitens der Hersteller und Importeure etwa durch das Agenturgeschäft. Einiges davon setzt schon heute vielen Unternehmen zu. EY spricht darum von nötigen „neuen Konzepten“; ein Rat lautet, vom Verkäufer zum Vertrieb für Mobilität zu werden – und sich dabei ihrer großen Stärke zu bedienen: der Nähe zum Kunden. Eben so, wie es Golbeck – für diese konservative Branche recht radikal – getan hat.
„Nur so können wir die Verkehrswende irgendwann erreichen“
Christoph Golbeck
Für die Ausgründung des Mobilitätshauses aus dem laufenden Betrieb heraus hat er im Transformationsberater Sebastian Olényi einen Mitstreiter und gleichberechtigten Mitgründer gefunden. Heute sind die Verkaufsflächen in Friedrichshain ebenso verpachtet wie am zweiten Standort am Stadtrand, während der übrige Teil der Beratung und dem Service gewidmet und dabei gewissermaßen diskriminierungsfrei bei Art und Marke des Fortbewegungsmittels ist.
Der Kundschaft soll das verkauft werden, was sie wirklich braucht. Darum bietet das Autohaus Golbeck nach wie vor Autoreparaturen an, aber eben auch B2C- und B2B-Mobilitätsberatung, Service für Lastenräder und alternative Transportmittel für die Stadt. Deren Verkauf überlässt man allerdings nach unabhängiger Beratung den entsprechenden Händlern oder Herstellern.
Das ist womöglich die Rettung für das Autohaus mitten im Wohngebiet. Jetzt wollen die Gründer in die Fläche. Größtmöglich skalieren – für den Klimaschutz: „Nur so können wir die dringend nötige Verkehrswende unterstützen und irgendwann erreichen.“ Ziel ist ein flächendeckendes Netz von ehemaligen Autohäusern, das seiner Kundschaft nicht nur alternative Produkte, sondern ganze, nachhaltige Flottenlösungen anbietet, die dem herkömmlichen Ansatz mit Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor unter dem Strich überlegen ist – Service inklusive.
Für diese Skalierung soll den Autohäusern ein modularer Baukasten zur Verfügung stehen, um je nach Lage – etwa ländlich oder in der Stadt – die jeweils passenden Produkte und Dienstleistungen anbieten zu können. Dazu zählen „zum Beispiel die Beratung zu Hardware und eine genaue Bedarfsanalyse, Energieberatung und Ladelösungen für E-Mobilität, aber auch Angebote zum Coworking, Fahrschulen und dem Service für alle Produkte“, zählt Golbeck auf.
„Wir haben echt keine Zeit mehr.“
Christoph Golbeck
Einer erfolgreichen Mobilitätswende fehle es zudem an Fläche und Professionalität auf der Angebotsseite: „Viele Geschäfte, die Cargobikes verkaufen, haben weder das Know-how noch den Platz für deren Service. Aber ohne beides wird man keinen Entscheider von einem Fuhrpark mit alternativen Fahrzeugen überzeugen.“ Darum ist ein weiteres Modul des Baukastens, die Unternehmen entsprechend zu qualifizieren und mit der nötigen Soft- und Hardware auszustatten.
Von zentraler Bedeutung für den Erfolg ist dabei die eigentliche Stärke der Häuser: „Sie alle genießen enormes Vertrauen seitens ihrer Kunden, die teilweise seit Jahrzehnten vorbeikommen, manchmal nur für ein persönliches Gespräch.“ Dieses Kapital soll mit dem modularen Ansatz quantifiziert und gezielt in Richtung der Angebote an alternativer Mobilität gelenkt werden. Aus einem Autohandel wird so eine intermodulare Transformationsagentur.
Golbeck und Olényi wollen kein marktbeherrschendes, alles lenkendes Unternehmen schaffen. Sie sind stattdessen auf der Suche nach auf Gewerbeobjekte spezialisierte Investor:innen, die Autohäuser im großen Stil kaufen sollen – 100 im Quartal, gern auch mehr. Die ehemaligen Eigentümer:innen würden dann Pächter:innen und Betreiber:innen, die dank des Baukastens auf eine rentable Wertschöpfungskette zurückgreifen können und mit neuen Mobilitäsanbietern unter dem gleichen Dach eng zusammenarbeiten.
Die investierenden Immobilienunternehmen wiederum fungieren in der Vision auch als Berater für Gemeinden und Städte, wenn es etwa darum geht, bei neuen Bauvorhaben schon bei der Planung Sharing-Angebote und die für alternative Mobilitätsangebote die passende Infrastruktur zu berücksichtigen, um so den Raum gezielt im Sinne der Verkehrswende umzuverteilen.
Ein ambitioniertes, vielschichtiges Vorhaben, das nur die Privatwirtschaft realisieren kann. Gerade erst bescheinigte der von der Bundesregierung benannte Expertenrat für Klimafragen dem aktuellen Sofortprogramm von Verkehrsminister Wissing, es sei „schon im Ansatz ohne hinreichenden Anspruch“ und erfülle keinesfalls „die Anforderung an ein Sofortprogramm gemäß Bundes-Klimaschutzgesetz“.
Unter diesen Bedingungen ruft Golbeck andere Unternehmer:innen und Investor:innen dazu auf, sich mit seiner disruptiven Vision von dem, was sich heute noch Autohandel nennt, intellektuell wie finanziell auseinanderzusetzen. Möglichst schon heute, denn: „Wir haben echt keine Zeit mehr.“
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Christoph Golbeck
Der Politikwissenschaftler Christoph Golbeck übernahm das Unternehmen von seinen Eltern. Er sieht Autohäuser als künftige Multiplikatoren für Individualmobilität und will darum beide Standorte in Berlin-Friedrichshain und Berlin-Buch zu urbanen Mobilitätshubs machen und anderen Unternehmen dabei helfen, diesen Weg ebenfalls zu gehen.
Sebastian Olényi
Der studierte Biotechnologe Sebastian Olényi ist Mitgründer des Mobilitätshauses. Mit seiner Agentur Sustentio berät er zudem Unternehmen bei ihrer Transformation zu mehr Nachhaltigkeit, lehrt „sustainable business“ an der FU Berlin und engagiert sich für die Entrepreneurs for Future sowie im Bundesverband nachhaltige Wirtschaft.