Wenn die Einkaufsmeile zur Spielstraße wird
Die belgische Stadt Hasselt hat die komplette Innenstadt zur Tempo-20-Zone gemacht. So soll die City sicherer und lebenswerter werden. Ein Vorbild für deutsche Gemeinden?
Während in Deutschland eine überaus zähe Debatte geführt wird, ob Tempo 30 nicht die bessere Grundgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften ist, prescht die belgische Stadt Hasselt vor. Wobei man besser sagen sollte: Die Hauptstadt der belgischen Provinz Limburg bremst ab. Denn Anfang August wurden 62 neue, blaue Verkehrsschilder aufgestellt, die die Innenstadt als „Woonerf“ ausweisen, einen verkehrsberuhigten Bereich. Seitdem gilt im Zentrum der 80.000-Einwohner:innen-Stadt eine pauschale Höchstgeschwindigkeit von 20 Stundenkilometern – für alle Verkehrsteilnehmer:innen.
Schon bislang war die City von Hasselt eine Tempo-30-Zone. Den Sinn hinter der zusätzlichen Reduzierung der ohnehin niedrige Maximalgeschwindigkeit erklärt ausgerechnet ein Autofahrer: „Macht es einen Unterschied, dass ich nur 20 Kilometer pro Stunde fahren kann? Ja, 30 Kilometer pro Stunde sind zu schnell für die Radfahrer“, zitiert eine Lokalzeitung den Mann. Neben einem Zugewinn an Sicherheit für die anderen Verkehrsteil durch langsamere Autos versprechen sich die Stadtverantwortlichen davon auch, dass viele Pkw-Nutzer:innen das Areal komplett meiden.
„In der Praxis war es bislang schon Tempo 20“
Kris Peeters, Verkehrsexperte
Wobei die Absenkung um weitere 10 km/h auch als ein Art symbolischer Akt verstanden werden können. Denn die mittelalterliche Struktur des Zentrums von Hasselt sorgte schon immer für ein niedriges Tempo. „In der Praxis lag die Höchstgeschwindigkeit bislang schon bei rund 20 Stundenkilometern in der Innenstadt von Hasselt“, so der Verkehrsexperte Kris Peeters gegenüber einem belgisches Newsportal.
Anderenorts ist die Debatte um geringere Geschwindigkeit in den Innenstädten alles andere als symbolischer Natur. In letzter Zeit ist die Zahl der Verkehrsunfälle mit Personenschaden wieder dramatisch gestiegen, vor allem innerorts. Waren es im April 2021 noch 11.560 Fälle, schnellte der Wert im April des laufenden Jahres auf 13.733, so die jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamts.
Auch wenn überhöhte Geschwindigkeit nicht die bedeutendste Unfallursache ist, so würde eine Senkung der Grundgeschwindigkeit für mehr Übersichtlichkeit und eine bessere Kommunikation der Verkehrsteilnehmer:innen untereinander sorgen. Doch die bestehenden gesetzlichen Regeln begünstigen eine Bevorzugung des Autoverkehrs – vor allem zulasten des Radverkehrs. Dabei kommt dem bei der Verkehrswende auf lokalem Raum eine immense Bedeutung zu.
Der Abschied von der autogerechten Innenstadt fällt darum in Deutschland nicht deshalb besonders schwer, weil die Bewohner:innen daran kein Interesse hätten. Einer Umfrage aus dem Jahr 2021 zufolge befürworten deutlich über die Hälfte aller Menschen in Deutschland Tempo 30 innerorts. Dass aus diesem von der Mehrheit getragenen Wunsch bislang kaum Wirklichkeit geworden ist, hat vor allem juristische Grunde.
Die Straßenverkehrsordnung (StVO) gibt vor, dass auf Hauptstraßen eine Grundgeschwindigkeit von 50 Stundenkilometern gilt. Abgewichen werden darf davon nur, wenn besondere Gründe vorliegen. Zum Beispiel, wenn an der Straße eine Kita oder ein Altersheim liegt. Eine grundsätzliche Festlegung auf Tempo 30 – oder gar Tempo 20 wie in Hasselt – erfordert eine Herabstufung der betroffenen Straße, was kompliziert ist. Und dann auch nur für die betroffene Straße gelten würde und nicht für ganze Viertel oder komplette Innenstädte.
Allerdings sind die Entscheider:innen vor Ort immer weniger bereit, sich von einem Bundesministerium vorschreiben zu lassen, welches Tempo in ihrer Stadt wo zu gelten hat. Seit etwas mehr als einem Jahr sammeln sie sich in der „Initiative für lebenswerte Städte und Gemeinden durch angepasste Geschwindigkeit“. Bald 250 Kommunen haben sich, angeführt von Aachens Stadtbaurätin Frauke Burgdorff und Leipzigs Bau-Bürgermeister Thomas Dienberg (Hier im FUTURE MOVES Podcast) zusammengeschlossen, um den Status quo mit vereinten Kräften zu kippen.
Doch neben der StVO es gibt noch einen zweiten Gegner: den Mythos von der Verödung der Innenstädte. Demnach würde eine Verbannung der Pkw automatisch dazu führen, dass die Zentren unattraktiv werden. Denn Geschäfte, bei denen sich nicht bequem mit dem Auto vorfahren ließe, würden spürbar an Umsatz verlieren, heißt es.
Dieses vermeintliche Argument klingt nicht nur nach den 1970er-Jahren, aus denen es stammt. Es ist auch falsch. Ungezählt sind die Beispiele, in denen der exakt gegenteilige Effekt eingetreten ist. Der Anteil autofahrender Kund:innen würde oft überschätzt; eine Verbannung der Pkw führe tatsächlich oft zu einer Erhöhung der Zahl der Passant:innen – mit entsprechend positivem Effekt auf die Umsätze wie das Beispiel der Berliner Friedrichstraße zeigt.
An dieser Stelle kommt dann stets derselbe Einwand: Es handele sich bei diesen Autofrei-Projekten in der Regel um temporäre Aktionen, die vor allem in Großstädten unternommen würden. Dieser Punkt lässt sich jedoch entkräften. Dabei hilft abermals der Blick in benachbarte Ausland. Das niederländische Oberzentrum Utrecht wird seit Jahren zu einer Fahrradstadt umgebaut. „Autofahren soll möglichst unattraktiv sein“ heißt es in einem aktuellen Artikel über Utrecht. Und dort steht auch, welchen Effekt die Verbannung des Pkw aus dem Zentrum hat.
Mittlerweile würden 60 Prozent aller Wege in Utrecht mit dem Rad zurückgelegt. Zum Vergleich: In Berlin sind es nur rund 13 Prozent und in Hamburg strebt man aktuell eine Steigerung von 15 auf 25 bis 30 Prozent an. Der Schwenk auf das Rad als Basis-Verkehrsträger habe zudem einen positiven Effekt auf die Wirtschaft. Neben dem gestiegenen Bedarf an Fahrradgeschäften und -werkstätten, verzeichne auch der lokale Einzelhandel ein Umsatzplus.