Heute ist in Hamburg Feiertag – zumindest für alle Pendler*innen, die auf dem Weg zur Arbeit die Elbe überqueren müssen. Nach fünf Wochen ÖPNV-Chaos soll die S-Bahn endlich wieder nach Plan fahren. Mitte August war ein Lkw unterhalb einer Brücke in Elbnähe ausgebrannt. Die täglich von 160.000 Menschen benutzte Strecke darüber war in der Folge nur sehr eingeschränkt befahrbar. Zehntausende Pendler*innen mussten auf Busse, ICEs, Regionalbahnen oder das Auto umsteigen und waren teilweise doppelt oder dreimal so lange unterwegs wie üblich.

Natürlich ist es schon sehr unwahrscheinlich, dass ein Lastwagen während der Fahrt in Brand gerät und ausgerechnet an der Stelle zum Stehen kommt, wo das Nahverkehrsnetz einer Millionenmetropole am verwundbarsten ist. Doch, dass genau das in Hamburg passiert ist, zeigt die Notwendigkeit, auch den ÖPNV auf Redundanz auszulegen und alternative Routen für Pendler*innen bereitzustellen. Das gilt umso mehr, da die Fahrgastzahlen in Zukunft deutlich steigen sollen. Die gute Nachricht: Ideen, wie sich das Nahverkehrsangebot leistungsfähiger machen lässt, gibt es viele. Man muss nur wissen, wo man sie finden kann.

„Der LKW-Brand an der S-Bahn-Station Elbbrücken hat uns erneut vor Augen geführt, dass das Bestehen nur einer Schienenverbindung über die Elbe – ganz gleich, wie viele Gleise sie hat – nicht tragbar ist für ein zukunftsfähiges Nahverkehrssystem in Hamburg.“ Das sagt Johannes Bouchain. Der Stadtplaner und angehende Geoinformatiker aus Hamburg beschäftigt sich schon lange mit dem Thema öffentlicher Nahverkehr. 2004 schrieb er seine Bachelorarbeit über die mögliche Wiedereinführung der Straßenbahn in Hamburg und machte später sein Diplom zum Thema „Stadtbahnqualitäten“. 

„Beim Thema Bürgerbeteiligung waren wir ganz früh dran“

Johannes Bouchain

Ende der 2000er-Jahre war Bouchain außerdem Mitinitiator von Next Hamburg. Auf der Plattform konnte jede*r Ideen für die Umgestaltung der Stadt von Neubauprojekten bis zu verbesserten Ampelschaltungen einbringen. Diesen Ansatz verband er dann mit seinem Interesse fürs Programmieren und startet 2014 ein Tool, mit dem Vorschläge von neuen Bus- und Bahnlinien online in einen Stadtplan eingezeichnet und kommentiert werden können. Als Namen wählte er „Linie 5“, weil damals in Hamburg über eine künftige U- und S-Bahnlinie diskutiert wurde, die jeweils die fünfte gewesen wären. Zudem gab es den Plan die – bis heute – hoffnungslos überlastete Buslinie 5 durch eine Stadtbahn zu ersetzen.

Rauten im Kreis: Vorschlag einer S-Bahn zum HSV-Stadion im Tunnel des ehemaligen Teilchenbeschleunigers. Bild: Linie Plus

In der Rückschau sagt Bouchain: „Beim Thema Bürgerbeteiligung waren wir ganz früh dran.“ Doch wie oft bei innovativen Projekten in der Stadtplanung, haben sich die etablierten Verfahren und Instanzen als wenig bereit für Veränderung erwiesen. Vielleicht waren Bouchain und seine Mitstreiter*innen auch einfach zu früh dran. Er erinnert sich an Feedback von damals. Mit Next Hamburg hatten sie Bürger*innen nicht vor mehr oder weniger vollendete Tatsachen stellen wollen, sondern bereits in der Phase des weißen Blatts beteiligen. Die aber hätten dann gesagt: „Ihr seid doch die Stadtplaner – legt doch mal was vor.“

Bouchain widmete sich irgendwann anderen Aufgaben. Doch Linie 5 lebte als Community-Projekt weiter. Heute heißt die Plattform Linie Plus und ist offen für ÖPNV-Ideen im gesamten Bundesgebiet. Mehr als 12.000 Vorschläge sind bislang eingegangen. Darunter praxisnahe wie die Reaktivierung alter Haltepunkte auf der Bahnstrecke zwischen Bamberg und Schweinfurt. Aber auch eher abenteuerliche Einfälle wie der, über den neuen Radschnellweg im Ruhrgebiet direkt eine Schwebeahn aufzuständern. Mittlerweile gelöscht ist die Quatschidee, die Hamburger U2 mit der Berliner U2 durch einen 260 Kilometer langen „Lückenschluss“ zu verbinden.

„Mein Träumchen wären Diskussionsrunden vor Ort“

Thorben Bick

„Wir sind mehr so eine Hobbyplattform geworden“, sagt Thorben Bick. Der Student, Fachrichtung Wirtschaftsingenieur Eisenbahnwesen, ist Teil der Admin-Gruppe von Linie Plus. Und er gehört zum aktiven Kern der Community, die gerade daran arbeitet, die Plattform wieder ein Stück weit zu ihren Ursprüngen zu führen: einem Tool für Bürger*innen-Beteiligung. Aktuell befinde man sich in der „Sortierphase“, wie Bick es nennt. Aus dem Wust an Ideen werden die sinnvollen und umsetzbaren herausdestilliert. Da diese Arbeit von einer Handvoll Freiwilligen erledigt wird und jeder nicht komplett abwegige Vorschlag zunächst im Team auf Brauchbarkeit diskutiert wird, ein zeitraubendes Unterfangen.

Würzburg revisited: Die Linie-Plus-Community bündelt Ideen zu Gesamtkonzepten für den lokalen ÖPNV. Bild: Linie Plus

Eine Mühe, die sich jedoch lohnen kann, wie das Beispiel Würzburg zeigt. Die Linie-Plus-Community hat aus Ideen von der Plattform die Grundlage eines schlüssigen Gesamtkonzepts für den ÖPNV der Stadt entwickelt. Das umfasst neben neuen Straßenbahnlinien auch eine Neuordnung des Busnetzes. In diese Richtung wollen Bick und seine Mitstreiter:innen Linie Plus künftig entwickeln und arbeiten bereits an Gesamtkonzepten für weitere Städte. Die möchten sie dann natürlich am liebsten auch außerhalb der eigenen Community zur Debatte stellen. „Mein Träumchen wären Diskussionsrunden vor Ort“, sagt Bick, also in einem angemieteten Saal, mit Presse, Politiker*innen – und natürlich Bürger*innen. Denn auch die besten Ideen entfalten ihre Kraft erst dann, wenn sie den Sprung von der Plattform in die reale Welt schaffen. 

Er wisse zwar nicht, sagt Johannes Bouchain, ob jemals ein Stadtplaner oder einer Stadtplanerin auf die Plattform geschaut habe. Aber die aktuell im Bau befindliche Abzweigung der U4 in Hamburg – „das war eine Idee von uns“, sagt der Linie-Plus-Erfinder. Und wenn man mit Bouchain über das Hamburger S-Bahn-Drama der vergangenen Wochen spricht, liefert er gleich eine Handvoll Ideen, die von unterschiedlichen Tunnelvarianten über eine neue Brücke bis zu einer Seilbahnverbindung reichen.

Auch auf Linie Plus existieren natürlich bereits Konzepte für neue Elbtunnel. Eines davon befasst sich explizit mit der S-Bahn. Der Vorschlag stammt aus dem Herbst 2021 und wird vom Urheber prosaisch wie prophetisch begründet: „Die Strecke über Wilhelmsburg ist überlastet, vor allem die S-Bahn Linien S3 und S31 sind stark ausgelastet. Und wenn es eine Störung gibt, existiert aktuell keine Alternative“, schrieb der User auf Linie Plus. Zehn Monate später sollte die ganze Stadt erfahren, wie Recht er damit hat.

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Johannes Bouchain

Johannes Bouchain

Der Stadtplaner und angehende Geoinformatiker Johannes Bouchain ist Mitgründer von Stadtkreation, einem multidisziplinär ausgerichteten Hamburger Büro, das sich auf die Felder Webentwicklung, Städtebau, Verkehrsplanung, Kartografie und Beteiligungsprozesse spezialisiert hat.

Thorben Bick

Thorben Bick

Wie alle bei Linie Plus hat Thorben Bick ein Faible für Busse und Bahnen. Und wie viele auf der Plattform auch eine professionelle Verbindung zum Thema. Er studiert aktuell im fünften Semester Wirtschaftsingenieur Eisenbahnwesen mit integrierter Berufsausbildung zum Fahrdienstleiter an der FH Erfurt.