Mobilität ist ungerecht. Nicht wegen schlechter Fahrradwege oder unfair verteilter Zuschüsse zu Mobilität. Bei gerechter Mobilität geht um den Zugang zu Mobilitätsangeboten und ihre Verfügbarkeit für alle. Besonders für Menschen mit Behinderung gestaltet sich das oft schwierig, weil gerade die Infrastruktur des für sie besonders wichtigen ÖPNV und des übrigen Verkehrsraums meist nicht inklusiv oder barrierefrei sind.

Ganz anders ist das in der hessischen Stadt Marburg. Sie ist seit jeher ein schillerndes Beispiel für Inklusion und leistet Pionierarbeit auf dem Gebiet. Und „seit jeher“ ist buchstäblich zu verstehen, denn eine spezielle öffentliche Einrichtung zeigt schon seit über 100 Jahren, wie es besser geht und warum alle davon profitieren, wenn Mobilitätsangebote auch für Menschen mit Behinderung gedacht werden.

Die „Blista“, die deutsche Blindenstudienanstalt, ist 1916 gegründet worden. Die Bildungseinrichtung ist speziell auf die Bedürfnisse von Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung ausgerichtet, und Thorsten Büchner ist hier zur Schule gegangen. Für den Blista-Mitarbeiter ist wichtig, dass jeder ein Recht auf Teilhabe an Mobilität hat. „Das ist bei uns sehbehinderten und blinden Menschen noch einmal besonders wichtig, weil wir auf Mobilitätsdienstleistungen jeglicher Art besonders angewiesen“, sagt Büchner.

„Ein riesiges Problem sind die ganzen E-Scooter“

Thorsten Büchner, Blista Marburg

Insbesondere beim ÖPNV und dem Fernverkehr hakt es in puncto Inklusion noch gewaltig. Laut einem Bericht der Deutschen Bahn sind nur an einem Viertel aller Bahnsteige alle zwingenden Ausstattungsmerkmale für Menschen mit Sehbehinderung vorhanden. Auch auf der Straße lauern viele Probleme: E-Autos bewegen sich fast lautlos durch den Verkehr – immerhin müssen sie nun bis zu einer Geschwindigkeit von 30 km/h künstlich Lärm erzeugen. Fahrräder und E-Scooter sind ebenfalls nicht zu hören. Ganz zu schweigen von modernen Entwicklungen wie den autonomen Autos, die blinde Menschen als solche nicht erkennen und deshalb anfahren.

Für Menschen mit Sehbehinderung ist der E-Antrieb nicht die einzige Gefahr am E-Scooter: „Ein riesiges Problem sind die ganzen E-Scooter. Die stehen überall herum“, sagt Büchner. Darüber könnten Blinde schnell stolpern, wie erst vor Kurzem in München. Dort fiel eine blinde Person über einen E-Scooter und stürzte die Treppe zur U-Bahn herab. Der deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband fordert deshalb ein Verbot für das Abstellen der E-Scooter auf dem Gehweg. Die Stolperfallen können durch designierte Parkflächen aus dem Weg geräumt werden. 

„Der Nahverkehr muss attraktiv genug sein, um aufs eigene Auto zu verzichten“

Thorsten Büchner

Solche bauliche Maßnahmen sind ein wichtiges Instrument für inklusive Mobilität. Um Katastrophen wie jene in München zu vermeiden, wurde beim 2015 neu eröffneten Bahnhof „durch eine intensive Zusammenarbeit der Blista mit der Stadt Marburg“ besonders auf Barrierefreiheit geachtet, so eine Sprecherin der Stadt. “Zudem gibt es ein digitales Fahrgastinformationssystem für Nutzer:innen des ÖPNV”, das die Bedürfnisse aller Verkehrsteilnehmer:innen berücksichtige. Das E-Scooter Problem löste die Stadt Marburg allerdings nicht mit Parkflächen, sondern indem es die geräuschlosen Flitzer erst gar nicht erlaubte. 

Vorschläge von Menschen mit Behinderung werden am Runden Tisch ‘Barrierefreiheit’ oder projektbezogen in Sitzungen ausgetauscht. Für Thorsten Büchner, der auch Mitglied im Stadtparlament ist, hat die Stadt Marburg auch eine Vorreiterrolle: “Man kann sich schon etwas von Marburg abgucken, weil hier die Verwaltung schon lange für das Thema sensibilisiert ist”. 

Anderenorts sähe es noch nicht so gut aus, insbesondere in allgemeinen verkehrspolitischen Debatten fehle der inklusive Anspruch, so Büchner. Eine inklusive Verkehrswende bedeutete für ihn, “dass der ÖPNV attraktiv genug sein muss, um aufs eigene Auto zu verzichten”. Und davon würden alle profitieren.

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Raul Krauthausen

Raul Krauthausen

ist Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit. Als Rollstuhlfahrer weiß er wie wichtig barrierefreie und inklusive Gesellschaft ist. Mit seinem Projekt wheelmap.org hat er eine Plattform geschaffen, auf der mit einem einfachen Ampelsystem öffentlich zugängliche Orte markiert werden, die rollstuhlgerecht sind. 

 

Alfred Bielschowsky

Alfred Bielschowsky

 war Arzt und Professor für Augenheilkunde. Aufgrund der hohen Zahl an erblindeter Soldaten während des ersten Weltkriegs gründete Bielschowsky mit Kollegen den “Verein blinder Akademiker Deutschlands”, dessen Ziel die Gründung einer Bücherei und Studienanstalt für blinde Menschen war, die spätere Blista.