Radschnellwege halbieren die Reisezeit von Pendler:innen
Es gibt einen einfachen Trick, viele Pendelnde vom Auto aufs Bike zu bekommen: Radschnellwege. Warum die Verkehrswende vor allem eine Frage der Infrastruktur ist
Die Wahl des Verkehrsmittels ist aktuell so wichtig wie vielleicht noch nie. Ob jemand mit dem Auto, dem Bus oder dem Fahrrad fährt, macht – in der Masse – einen großen Unterschied hinsichtlich CO2-Emissionen und Klimawandel. Trotzdem wird das Fahrrad im Alltag zu selten gewählt. Das liegt nicht zuletzt an einem folgenreichen Fehler, den Verkehrsplaner:innen vor 60 Jahren begangen haben.
In den 30er-, 40er- und 50er-Jahren war Deutschland noch ein Fahrradland wie die Niederlande es bis heute sind – obwohl dort ebenfalls eine Motorisierung der Massen stattgefunden hat. Wer das Fahrrad in Deutschland heute also wieder zu einem im Alltag selbstverständlichen Fortbewegungsmittel machen möchte, sollte sich anschauen, was im Nachbarland damals anders gelaufen ist.
Sjors van Duren weiß, wo genau Deutschland abgebogen ist, während die Niederlande weitergefahren sind. Er ist Berater für Radverkehr und Verkehrspolitik bei der niederländischen Unternehmensberatung Royal Haskoning DHV und war zuvor für die Entwicklung von Radwegen in der Region Nijmegen zuständig. Van Duren kennt einige Gründe, warum die Niederlande beim Radverkehr heute so viel besser abschneiden als Deutschland. „In den 1970er Jahren setzte sich eine Protestbewegung für mehr Verkehrssicherheit ein und war erfolgreich“, sagt van Duren. Auf nationaler Ebene wurde daraufhin die Entscheidung getroffen, getrennte Radwege entlang der Landstraßen zu bauen und Förderprogramme für sichere Radverkehrsinfrastruktur in den Städten ins Leben gerufen. Die intakte Radinfrastruktur habe dazu geführt, dass – trotz der Massenmotorisierung ab den 60er-Jahren – der Anteil des Radverkehrs nicht so weit sank wie in Deutschland.
„In den Niederlanden ist die Planungsphilosophie Versuchen und Probieren“
Sjors van Duren
Dank einer eigenen Infrastruktur konnte sich der Radverkehr in den Niederlanden eine gesellschaftliche Bedeutung bewahren, die in Deutschland verloren gegangen ist. Deren Wiederentdeckung ist mühsam. Das spiegelt sich nicht zuletzt in aktuellen Infrastruktur-Projekten: Schaut man auf die Wikipedia-Seite „Liste der Radschnellverbindungen in Deutschland“, so steht bei den allermeisten noch „in Planung“.
Dass Deutschland mit dem Ausbau der Radinfrastruktur, insbesondere der Radschnellwege, lange braucht, liegt vielleicht auch an der Herangehensweise. „In den Niederlanden haben wir in der Planungsphilosophie etwas mehr ‘Versuchen und Probieren’. Und in Deutschland ist es erst mal untersuchen, überprüfen – und dann umsetzen“, sagt van Duren. Während in den Niederlanden eher Bottom-up geplant wird, also jede Kommune ihre eigenen Radschnellwege baut, plant Deutschland, wie auch Belgien, eher Top-down.
Van Durens Charakterisierung der unterschiedlichen Ansätze beim Bau neuer Radwege hat ihre Berechtigung, das zeigen die aktuellen Projekte in Hamburg. Hier spielten die Interessen von Radfahrenden lange kaum eine Rolle. Nun sollen gleich sieben Radschnellwege in der Metropolregion gebaut werden, die bis zu 50 Kilometer ins Umland greifen.
So groß die Dimensionen des Hamburger Projekts sind, so langwierig gestaltet sich dessen Umsetzung. „Wir haben als erstes die Machbarkeitsstudien durchgeführt, das lief drei Jahre lang. Da haben wir zu den sieben Routen im Zulauf auf Hamburg geklärt, wo die Radschnellwege langlaufen können und welche baulichen Maßnahmen möglich sein können“, erklärt Susanne Elfferding. Sie ist zuständige Projektkoordinatorin für Radschnellwege in der Region Hamburg. Zusätzlich zu den Machbarkeitsstudien gab es eine zweistufige Bürgerbeteiligung; sowohl digital als auch als Workshop vor Ort.
Natürlich zieht sich so ein Verfahren. Die Bürgerbeteiligung sei allerdings aus mehreren Gründen wichtig, sagt Elfferding, und ein bisschen kommt dadurch auch niederländisches Bottom-up-Denken ins Spiel: Kein Planungsbüro kennt die Fahrradstrecken der Umgebungen so gut wie die Anwohner:innen. „Das ist das Wissen, was im Endeffekt nur die Leute haben, die diese Strecken täglich nutzen“, so Elfferding.
Bei den vertiefenden Workshops vor Ort habe es jedoch auch kritische Stimmen gegeben, die zeigen: Es braucht noch Aufklärung zu der geplanten Infrastruktur. Denn der Begriff Radschnellweg suggeriert, hier müsse schnell gefahren werden. Das ist natürlich nicht der Fall, „auf dem Radschnellweg kann jeder im eigenen Tempo unterwegs sein“, erklärt Elfferding. Laut dem Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) sind Radschnellwege exklusiv für Radfahrer:innen reservierte Strecken mit bestimmten baulichen Standards. „Radschnellwege haben eine ausreichende Breite, sind gut beleuchtet und bis auf wenige Ausnahmen ohne Stopp zu befahren“, schreibt das BDMV. Also einfach ein gut ausgebauter Radweg; nur der Name scheint noch nicht ganz selbsterklärend zu sein. Ob nachher auf den speziellen Routen wirklich schnell gefahren wird, bleibt vorerst offen. Die Langsamkeit bei der Umsetzung liegt aber nicht allein an Machbarkeitsstudien und Bürgerbeteiligung. Auch die Abstimmung mit allen betroffenen Akteur:innen und den an der Route liegenden Gemeinden benötigt Zeit.
„Wir bauen die Infrastruktur dem wachsenden Radverkehr hinterher“
Susanne Elfferding
Um den Prozess zu beschleunigen wird in Nordrhein-Westfalen ein anderer Weg eingeschlagen. Dort sind die Radschnellwege den Landstraßen gleichgestellt. Das bedeutet, die Wege sind genauso wichtig wie die oberste Kategorie der Landesstraßen und haben Priorisierung was die Mittel angeht. Diese Herangehensweise soll dabei helfen, Projekte zeitnah zu realisieren, die noch weit ambitionierter sind als das Hamburger Radschnellwegenetz und deutlich mehr Stakeholder involvieren. Der RS1 ist ein Radschnellweg, der über 115 Kilometer von Moers bis Hamm verlaufen soll. Ein kleines Stück der geplanten Route ist schon befahrbar, von der Hochschule Ruhr West bis zum Mülheimer Hauptbahnhof.
Hürden gibt es bei diesem Weg auch aufgrund von Umwelt- und Naturschutz. Zwar entstehen keine unmittelbaren Emissionen durch Radverkehr, Tiere können allerdings von den Radfahrer:innen und der Infrastruktur beeinträchtigt werden. Eidechsen beispielsweise liegen gerne auf dem warmen Asphalt der Radwege. Hier müssen sichere Ausgleichsflächen neben den Wegen geschaffen werden.
Wie der genaue Nutzen der fertigen Radschnellwege aussieht, lässt sich bisher nur anhand der Machbarkeitsstudien prognostizieren. Genauere Aufschlüsse gibt es erst nach der Fertigstellung. Die Prognosen sehen jedoch gut aus: Die Reisezeit auf dem Radschnellweg zwischen zwei Orten werde sich halbieren, das ergaben die Machbarkeitsstudien. Auch in Hamburg stehen die Aussichten gut, dass die Radschnellwege die Verkehrswende spürbar beschleunigen. „Der Zuwachs im Radverkehr ist sehr groß“, erklärt Elfferding, „es ist eigentlich so, dass wir mit der Infrastruktur hinter den Radfahrern herbauen.“
Genauere Studien samt Zahlen zum Effekt von Radschnellwegen gibt es von den Cycle Superhighways aus der Hauptstadtregion Dänemarks. Durch die neue Infrastruktur gäbe es einen 23-prozentigen Anstieg an Radfahrer:innen sowie weniger Krankmeldungen. Bis 2045 sollen im Nachbarland über 750 Kilometer Radschnellwege gebaut werden. In den Niederlanden konnten bis 2019 sogar durchschnittlich 29 Prozent mehr Radfahrer:innen auf den Radschnellwegen gezählt werden.
Die neuen Infrastrukturprojekte sind dort auch Treiber für technologische Innovationen. In den Niederlanden wurde eine gesonderte Beleuchtung für Teile des Radschnellwegs zwischen Nijmegen und Arnhem entwickelt. Die Beleuchtung verringert die Lichtverschmutzung, die Leuchten bilden ein Stück einer Fahrradkette nach, das nun an den Laternenmasten prangt. „Wenn man nach Nimwegen fährt, sieht man grün und wenn man nach Arnhem fährt, sieht man lila“, erklärt van Duren. Zugleich vermitteln die Leuchten den im Stau stehenden Autofahrer:innen auf der parallel zum Radschnellweg verlaufenden Autobahn eine bessere Alternative: das Radfahren.
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Sjors van Duren
Seit über 20 Jahren beschäftigt sich Sjors van Duren mit Radinfrastruktur und nachhaltiger Mobilität. Er ist Berater für Radverkehr und Verkehrspolitik bei der niederländischen Unternehmensberatung Royal Haskoning DHV und hat festgestellt: Beim Radfahren ist der Energiegewinn noch wichtiger als der Zeitgewinn. Radwege sind nicht immer der schnellste Weg, aber der entspannteste.
Sidsel Birk Hjuler
Die dänischen Radschnellwege in der Metropolregion Kopenhagen heißen Cycle Superhighways, und Sidsel Birk Hjuler ist als Amtsleitern dafür verantwortlich, dass viele Fahrradpendler:innen auf mittlerweile mehr als 167 Kilometern zur Arbeit kommen. Erste Ergebnisse aus der Region zeigen, dass Pendeln mit dem Rad gesünder ist und bis zu 30 Prozent weniger Autos auf den Straßen zufolge hat.