Das klingt unglaublich: Ein Fahrradhelm aus Pilzen und Pflanzenteilen, der nach seinem Leben als Kopfschutz einfach auf dem Kompost verrottet. Doch genau daran arbeitet Alessandra Sisti mit ihrem Team bei Studio MOM im niederländischen Arnhem: „Natürlich sind nicht die Pilze gemeint, die auf der Pizza liegen“, erklärt sie. Es geht um das Myzel, das häufig kilometerlange, eng verwobene Geflecht, das unter der Erde ist – und nicht um die bekannten Fruchtkörper mit Stiel und Kappe. 

Bislang beschränkten sich die tatsächlichen ökologischen Beiträge von als „nachhaltig“ angepriesenen Helmen auf die Verwendung von recyceltem Kunststoff, die Kompensation von Klimaeffekten oder grobe Kompromisse zwischen Sicherheit und Umweltschutz. Doch deren tatsächlicher Beitrag ist zumindest mal infrage zu stellen. Und dabei wäre der gar nicht unwichtig: Die Helmtragequote lag laut Bundesanstalt für Straßenwesen im Jahr 2020 bei nur 26 Prozent, im Folgejahr schon bei einem Drittel. Das zeigt: Die Zahl der Helmtragenden steigt rasant. Die Idee von Studio MOM ist darum besonders vielversprechend.

2020 beschäftigt sich Sisti bei Studio MOM als Praktikantin zunächst mit den Eigenschaften des Myzels im hauseigenen Labor: „Man muss heute mit mehr als nur einer Idee zu den potenziellen Investoren kommen“, nennt Mars Holwerda, Gründer und Eigentümer des Unternehmens, als Grund für die Existenz der kleinen Forschungseinrichtung. „Gerade die großen Unternehmen sind heute sehr mit ihrem Tagesgeschäft ausgelastet und haben kaum noch Zeit oder die Kapazitäten, völlig neue Ansätze voranzubringen, die erst nach einigen Jahren zu einem verwertbaren Ergebnis führen könnten.“ Darum will er bei der Investorensuche nicht nur die Idee zeigen, sondern auch gleich den Proof of Concept mitbringen, also zeigen, dass es auch wirklich funktioniert.

Ergebnis von Sistis Untersuchungen im Labor: Lässt man Hanfflocken und das Myzel miteinander verwachsen, kommt dabei ein Material heraus, das expandiertem Polystyrol (EPS), sehr ähnlich und kaum schwerer ist. „Auf der Suche nach einer konkreten Anwendung, die mit nachhaltiger Mobilität zu tun haben sollte, kamen wir schließlich auf den Fahrradhelm“, sagt sie. Darin ist EPS das Material, das die schützende Pufferzone für den Kopf ausfüllt. 2021 war das Projekt Gegenstand ihrer Master-Thesis im Studiengang Design Engineering an der Politecnico Milano.

„Das ist so ähnlich wie Backen, eine völlig neue Art der Produktion“

Mars Holwerda, Gründer Studio MOM

Die Konstruktion des Helmes ist so gut wie abgeschlossen: Bei 25 bis 30 Grad, 60 bis 80 Prozent Luftfeuchtigkeit und im Dunkeln dauert es drei bis fünf Tage, bis der biogene EPS-Ersatz, die Außenhaut aus Hanftextil und der Kinnriemen zu einer Einheit fest verwachsen sind – ohne einen einzigen Tropfen Klebstoff. Nach der anschließenden Trocknung über 60 bis 70 Stunden bekommt der Helm seine endgültige Festigkeit. „Das ist so ähnlich wie Backen, eine völlig neue Art der Produktion“, sagt Holwerda. Eine, die weniger Energie benötigt, als die Fertigung herkömmlicher Helme.

„Einfach in den Garten schmeißen. Dort verrottet er innerhalb von ungefähr zwei Monaten“

Alessandra Sisti, Projektleiterin Studio MOM
Noch sieht die Myzel-Hanfflocken-Komposition nicht aus wie ein Fahrradhelm. Das ändert sich jedoch noch. Foto: Studio MOM

Selbst der Kinnriemen ist aus Hanf – man könnte den Helm darum nach seiner Einsatzzeit „einfach in den Garten schmeißen. Dort verrottet er innerhalb von ungefähr zwei Monaten“, sagt Sisti. Die genaue Dauer hängt noch vom endgültigen Feuchtigkeitsschutz ab, denn Regen soll dem Helm natürlich nichts anhaben können. Dabei erfülle er die Anforderungen der niederländischen Crash-Norm NTA8776 für S-Pedelecs, die höhere Anforderungen stelle als europäische Normen. Damit ist eine der großen technologischen Hürden genommen.

Auch auf der kaufmännischen Seiten sieht es gut aus, sagt Holwerda. Für die in den Niederlanden geplante Serienproduktion hätten er und sein Team inzwischen sechs Unternehmen an einen Tisch bekommen, die Verhandlungen seien weit fortgeschritten. Anfängliche Versuche, den Helm exklusiv anzubieten, fruchteten nicht, denn „keiner will bei einem so grundlegend neuen Vorhaben das volle Risiko tragen.“ Nun sind es also sechs Partner, mit denen die nächsten nötigen Schritte ab 2023 in Richtung industrieller Serienproduktion gemeinsam gegangen werden sollen.

„Wir reden also von mehreren Millionen Helmen pro Jahr allein in Europa“

Mars Holwerda, Gründer Studio MOM

Viel personeller und zeitlicher Aufwand für den Austausch von 250 Gramm Plastik pro Helm, könnte man meinen, andere Probleme schienen dringender. Vielleicht, dennoch geht es um tausende Tonnen Plastik, denn „Helme müssen alle drei Jahre oder nach einem Aufprall ersetzt werden. Wir reden also von mehreren Millionen Helmen pro Jahr allein in Europa. Außerdem wollen wir der Industrie einen neuen technologischen Impuls geben“, umreißt Holwerda die quantitativen und ideellen Einflüsse des Projekts.
Studio MOM beansprucht den Myzel-Ansatz indes nicht für sich allein: „Wir haben recherchiert und weitere ähnliche Projekte gefunden, etwa an der University of Zurich.“ Auch auf eine im Netz herunterladbare Anleitung des mexikanischen Designbüros NOS sind sie gestoßen: Der Bauplan eines Helms auf Basis von Heu und Myzel kostet 15 Dollar und heißt „Grow it Yourself Bike Helmet“; in Schweden wurde zuletzt ein ähnlicher Ansatz mit Zellulose verfolgt. Das alles sei aber keine Konkurrenz, sondern verbessere die Chancen für die neue Technologie: „Es geht um Zusammenarbeit, jede Idee ist willkommen. Vieles ist inzwischen so kompliziert, dass ein einzelnes Vorhaben keinen Systemwandel stemmen kann“, so der Gründer.

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Mars Holwerda

Mars Holwerda

Mars Holwerda ist Gründer von und Designer bei Studio MOM. Das Unternehmen mit Sitz im niederländischen Arnhem entwirft nicht nur Produkte, sondern berät Unternehmen der Fahrradindustrie beim Umbau von Produkten und Prozessen nach den Grundsätzen der Kreislaufwirtschaft.

Alessandra Sisti

Alessandra Sisti

Projektleiterin für MyHelmet bei Studio MOM. Die ersten Experimente mit Pilz-Myzel und dessen Eigenschaften begannen für die damalige Praktikantin 2020. Im Folgejahr schrieb Alessandra Sisti über die Entwicklung des Helmes ihre Master-Thesis im Studiengang Design Engineering an der Politecnico Milano.