Warum wir einen Knigge für den Straßenverkehr brauchen
Gerade wurde im Vereinigten Königreich eine neue Straßenverkehrsordnung erlassen. Ein Vorbild für eine Revision der deutschen StVO?
Keine Verkehrswende ohne zeitgemäße Regelungen – das hat man im Vereinigten Königreich offenbar verstanden und den Highway Code angepasst, das Äquivalent zu unserer Straßenverkehrsordnung (StVO). Doch viele der neuen Regeln sind im dortigen Straßenverkehr längst gang und gäbe und im neuen Highway Code nun unmissverständlich zu Papier gebracht worden. Trotzdem sorgten die Neuerungen in den letzten Wochen für Aufruhr, einige Autoverbände und Lobbygruppen bezeichneten sie als rückschrittlich und verwirrend. Doch was bringt sie auf die Palme?
Ungeschützte Verkehrsteilnehmer:innen müssen sich neuerdings nicht mehr dem Autoverkehr unterordnen. Stattdessen sind Autofahrer:innen nun zu mehr Sorgfalt und Rücksicht im Straßenverkehr verpflichtet. Konkret: Das Radfahren auf der Straße ist in Großbritannien schon länger erlaubt, ein neuer Gesetzestext formuliert den Sachverhalt nun noch deutlicher. Das Fahren auf Radwegen ist für Radler:innen nicht verpflichtend und es liegt in deren Ermessen, ob sie sie nutzen wollen oder nicht.
Auch als Autofahrer:in lohnt es sich für gute Radinfrastruktur einzusetzen
In Deutschland ist die Lage differenzierter. Hier schreibt die StVO vor: Sind Radwege ausgewiesen, müssen diese genutzt werden. Ist also ein blaues Schild mit einem weißen Fahrrad zu sehen, muss der Radweg genutzt werden. Ist kein obligatorischer Radweg ausgeschildert, bleibt den Radfahrer:innen selbst überlassen welchen Weg sie wählen. Eine Ausnahme gilt hier, wenn der ausgewiesene Radweg von Wurzeln überwuchert ist, Gegenstände im Weg liegen sowie Autos oder Mülltonnen die Fahrt versperren – dann ist das Ausweichen auf die Straße regelkonform. Ein guter Grund also sich auch als Autofahrer:in für gute Radinfrastruktur einzusetzen und nicht auf dem Gehweg zu parken.
Wo auf der Straße dürfen Brit:innen fahren? Die Sunday Times titelte dazu provokativ, „Radfahrer fahren nach der neuen Straßenverkehrsordnung in der Mitte der Straße“. Der Wahrheit entspricht das allerdings nicht ganz, denn die neue Regelung besagt nur, dass Radfahrer:innen in bestimmten Situationen die Mitte der Fahrbahn nutzen sollen; beispielsweise bei der Annäherung an Kreuzungen oder auf schmalen Straßenabschnitten, wo ein überholendes Auto eine Gefahr darstellen würde. Die Empfehlung, in unüberschaubaren Situationen eine „primäre Position“ auf der Straße einzunehmen existiert zudem schon ein paar Jahre.
Und in Deutschland? Laut StVO müssen alle Fahrzeuge möglichst weit rechts fahren, Fahrräder mit eingeschlossen. Dass viele Radfahrer:innen dennoch einen gewissen Abstand zum Fahrbahnrand halten, liegt unter anderem an der Gefahr einer sich plötzlich öffnenden Autotür, sogenanntes Dooring. Aus diesem Grund urteilte das Landgericht Berlin, dass Radfahrer:innen einen entsprechenden Abstand zu parkenden Autos halten müssen – in der Regel einen bis anderthalb Meter. Sich entsprechend auch auf der Fahrbahnmitte zu positionieren kann unter Umständen auch in Deutschland sinnvoll sein, um gefährliche Überholmanöver zu vermeiden.
Nebeneinander Fahren ist erlaubt und unter Umständen sogar sicherer
Bleibt noch der vielleicht größte Streitpunkt: Dürfen Radfahrer:innen auf der Straße nebeneinander fahren? Im Highway Code wurde diese Regelung neu formuliert: Wo zuvor stand, dass Radfahrer:innen auf keinen Fall zu mehr als zu zweit nebeneinander fahren sollten, steht nun, dass zu zweit nebeneinander Fahren erlaubt ist und unter Umständen sogar sicherer, insbesondere in größeren Gruppen oder mit Kindern. Beim Fahren in Gruppen soll „auf die Bedürfnisse anderer Verkehrsteilnehmer:innen Rücksicht genommen werden“. Andere Fahrzeuge sollen also in sicheren Situationen die Möglichkeit zum Überholen erhalten.
Was hierzulande rechtens ist, regelt die StVO folgendermaßen: „Mit Fahrrädern darf nebeneinander gefahren werden, wenn dadurch der Verkehr nicht behindert wird.“ Allerdings wird nicht genauer erläutert was genau mit Behinderung des Verkehrs gemeint ist, und das führt immer wieder zu Problemen: Autofahrer:innen fühlen sich behindert, Radfahrer:innen bedrängt. Sicher ist das nicht.
Schnellere Verkehrsteilnehmer:innen müssen auf langsamere Rücksicht nehmen
Der entscheidende Vorteil des neuen Highway Codes gegenüber der deutschen Straßenverkehrsordnung ist die Definition einer Hierarchie der Verkehrsteilnehmer:innen. Was sich in Deutschland noch nach hart umkämpfter Hackordnung anfühlt, wird in Großbritannien unumstritten festgelegt: Schnellere und/oder schwerere Verkehrsteilnehmer:innen müssen auf entsprechend langsamere und schwächere Verkehrsteilnehmer:innen Rücksicht nehmen. Ähnliches gilt übrigens aus anderen Gründen in der Schweiz: Hier haben schwere Fahrzeuge auf Bergstraßen Vorrang, weil sie weniger leicht zu manövrieren sind. „Reisecars“ genannte Omnibusse haben Vorrang vor Lkw, Lkw vor Auto mit Anhänger, usw.
Der britische Highway Code punktet mit einem weiteren Aspekt, und zwar dem Straßenknigge. Im Highway Code steht nicht nur die Pflicht, sondern auch die Dos und Don’ts, also die Kür. Vielleicht könnte Verkehrsminister Wissing ein paar höfliche Empfehlungen aussprechen, beispielsweise, dass Fahrer:innen von drei Tonnen schweren SUVs auf schwächere Verkehrsteilnehmer:innen Rücksicht nehmen sollen. Denn gegen empfohlene Verhaltensweisen kann man verstoßen. Die feine englische Art ist das dann aber nicht.
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Chris Boardman
ist ein ehemaliger englischer Rennfahrer. Die Änderungen des Highway Codes beschreibt Boardman als „inspirierend logische Maßnahme“ und sagte, sie seien ein „echter Meilenstein für den aktiven Verkehr“.
Cycling UK
ist eine gemeinnützige Organisation im Vereinigten Königreich, die die Interessen bestehender und potenzieller Radfahrer unterstützt. Auch Cycling UK lobte die Änderungen: „Vorschriften, die den Fahrern größerer Fahrzeuge mehr Verantwortung auferlegen, sind längst überfällig.“