Die Stadt, die nicht autogerecht werden wollte
In Amsterdam gibt es mehr Fahrräder als Einwohner. Mikroautos auf Gehwegen werden akzeptiert, wild geparkte Fahrräder abgeschleppt. Warum die Verkehrswende im Nachbarland so viel weiter ist als bei uns
Alle Bürgermeister:innen in Deutschland träumen gerade davon, ihre Städte zu Kopenhagen oder Amsterdam zu machen. Also in Metropolen zu verwandeln, in denen ein ausgewogener Verkehrsmix herrscht und Multimodalität gelebter Alltag ist. Doch die Realität sieht anders aus. Sie wird meist bestimmt von schleppendem Radwegeausbau und vereinzelten Leuchtturmprojekten. Und beim Blick auf den Sehnsuchtsort Amsterdam wird außerdem klar: Dort denkt man schon wieder viel weiter als in deutschen Rathäusern.
Das merkt man bereits, wenn man den Südbahnhof verlässt. Dort sind die Straßen für private Pkw gesperrt, hier rollen nur Elektrobusse und die zahllosen „Fietsen“, die Fahrräder. Am Bahnhof gibt es 9.000 Fahrrad-Stellplätze, viele davon in einer hell beleuchteten Tiefgarage. An einem Mobilitäts-Hub kann man mit einer App wählen, wie man weiterfahren will – per E-Carsharing-Auto, Elektroroller oder natürlich per E-Bike oder Lastenrad.
Das Bike ist und bleibt das Rückgrat der nachhaltigen Mobilität. Das Ranking der fahrradfreundlichsten Städte der Welt, der „Copenhagenize Index“, führt Amsterdam seit mehr als zehn Jahren unter den Top-3. Die etwas mehr als 800.000 Hauptstadt-Einwohner:innen besitzen etwas weniger als 900.000 Fahrräder. Mit ihnen spulen sie pro Tag etwa zwei Millionen Kilometer ab, etwa 40 Prozent des gesamten Verkehrs. Mit dem Bike oder mit Bus und Bahn kommen sie viel schneller voran als mit dem Auto. Das Netz an breit ausgebauten Radwegen mit sicheren Kreuzungen ist 500 Kilometer lang. Dazu kommen viele „Fietsstraaten“, das sind Wohnstraßen, auf denen Fahrräder Vorfahrt haben.
„Es gab keine Revolution bei der Mobilität. Sondern eine Evolution“
Cornelia Dinca, Gründerin von Sustainable Amsterdam
„Amsterdam hat seine nachhaltige Mobilität nicht durch eine Revolution, sondern durch Evolution erreicht“, sagt Cornelia Dinca, die Gründerin des Beratungsbüros „Sustainable Amsterdam“. Schon vor 100 Jahren waren die Niederländer:innen eine Nation von Radfahrern. Aber in den 50er- und 60er-Jahren setzte die Stadtplanung vor allem auf das Auto – bis sich Widerstand in den Vierteln regte, in denen Straßen auf Kosten von Radwegen und alten Häusern verbreitert wurden. Zudem stiegen die Zahlen der Unfälle und der Verkehrstoten stark. 1973 entstand die Kampagne „Stop de Kindermoord“ – sie war ein Wendepunkt für die öffentliche Meinung und in der Verkehrsplanung. „Ein weiterer wichtiger Moment war im Jahr 1992“, berichtet Dinca. „Damals entschied die Bevölkerung von Amsterdam in einem Referendum, das Parken kostenpflichtig zu machen und den Platz für Autos zu beschneiden.“
Wo Licht ist, gibt es auch Schatten, das kann nicht anders sein. In den ganzen Niederlanden werden pro Jahr etwa eine Million Fahrräder geklaut – oder nach dem Abstellen nicht wiedergefunden. Vergessene Bikes vermüllen die Stadt. In Amsterdam schafft die Gemeinde jedes Jahr 75.000 von ihnen fort, von Zeit zu Zeit baggert sie Räder aus den Grachten hoch. Und nicht alle Bewohner:innen freuen sich über die zweisitzigen Microcars für Menschen mit Behinderung, die auf Radwegen rollen und auf Gehwegen parken dürfen.
Es wird sich immer jemand finden, der an diesem oder jenem etwas auszusetzen hat. In der Summe jedoch ist die Zufriedenheit mit dem Angebot groß, weil Amsterdam auf einen breiten Fächer von Maßnahmen setzt: Mobilitäts-Hubs ermöglichen intermodale Fortbewegung, die Busflotte wird bis 2025 komplett auf E-Antrieb umgestellt. Carsharing-Autos erleichtern den Abschied vom eigenen Pkw. Über 11.000 davon stehen den Amsterdamer:innen zur Verfügung. Zum Vergleich: In Berlin, einer viermal so großen Stadt, sind es 3.000.
Elektroautos und Plug-in-Hybride machen mittlerweile etwa sieben Prozent der Pkw-Flotte der Stadt aus. Sie können an 5.000 öffentlichen Punkten im Stadtgebiet geladen werden. Intelligente Verkehrsleitsysteme erfassen, wo sich Fahrräder, Fußgänger und Autos ballen und wo Straßen und Wege frei sind. Die Daten darüber machen einen besseren Verkehrsfluss möglich und dienen als Grundlage für die künftige Planung.
Wie geht es weiter? „Die individuelle Mobilität soll 2030 emissionsfrei sein“, sagt Cornelia Dinca. Dafür setzt Amsterdam vor allem aufs Fahrrad. Für 200 Millionen Euro entstehen noch mehr Bike-Parkplätze, darunter viele diebstahlsichere, und noch mehr und breitere Radwege. Neue Routen sollen die innere City umfassen und Amsterdams ehemaligen Meeresarm IJ überqueren. Autofahrer:innen hingegen, die schon heute viele Einschränkungen hinnehmen müssen, geraten vom Fegefeuer in die Hölle. Die Höchstgeschwindigkeit wird flächendeckend auf 30 km/h beschränkt. Große Durchfahrtsstraßen werden zurückgebaut oder ganz gesperrt. 11.000 Parkplätze fallen bis 2025 weg – jeder von ihnen macht rechnerisch für zehn Fahrräder Raum. Die ohnehin hohen Parkgebühren steigen weiter, und ab 2030 sind Autos mit Verbrennungsmotor in der City verboten.
„In den Niederlanden gibt es keine Autolobby“
Cornelia Dinca
Auf dem 80 Kilometer langen Netz der Wasserstraßen wird der Verkehr elektrisch. Schon heute verkehren einige Fähren mit sauberem Antrieb, und 2025 soll eine Flotte aus E-Booten an den Start gehen; diese „Roboats“ können autonom navigieren. Ihre Aufgabe: Passagiere und Waren befördern, Abfall einsammeln und die Wasserqualität kontrollieren. Die ersten Prototypen sind seit Herbst 2021 unterwegs.
Die Zukunft des Verkehrs in Amsterdam hat längst begonnen. Warum kann diese Stadt so viel, was deutsche Städte nicht können? „Dafür gibt es ganz verschiedene Gründe“, sagt Cornelia Dinca. „Einer der wichtigsten ist, dass in den Niederlanden keine bedeutende Automobilindustrie existiert. Und damit gibt es keine Lobby, die sich gegen eine nachhaltige Infrastruktur und Politik wehrt.“
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Cornelia Dinca
Cornelia Dinca ist im kanadischen Calgary aufgewachsen, dort lernte sie früher Autofahren als Radfahren. In Vancouver und Amsterdam arbeitete sie an Projekten zu Klimawandel, Abfallmanagement und Urbanismus. 2013 gründete sie die Beratungsfirma „Sustainable Amsterdam“ – sie hilft Städten, die nachhaltiger und sauberer werden wollen.
Evert Verhagen
Evert Verhagen engagiert sich bei „Sustainable Amsterdam“ mit Studienprogrammen und Beratungsarbeit für Regierungsdelegationen, die sich für urbane Transformation und die Entwicklung der Kreativwirtschaft interessieren. Mit über dreißig Jahren Erfahrung in der Arbeit für die Stadt Amsterdam ist er auch als Senior Consultant im Unesco-Programm Creative Cities tätig.