Der richtige Abstand ist keine Frage des Anstands
Viele Autofahrende halten beim Überholen von Radler:innen den Sicherheitsabstand nicht ein. Wie lässt sich dieses gefährliche Problem in den Griff kriegen?
1,5 Meter – das ist der gesetzlich vorgeschriebene seitliche Abstand, den ein Kraftfahrzeug beim Überholen eines Fahrrades oder E-Kickscooters seit dem 28. April 2020 innerorts einhalten muss. Zuvor war lediglich von einem „ausreichenden Abstand“ die Rede. Eine vage Angabe, die das Schutzbedürfnis von schwächeren Verkehrsteilnehmer:innen über Jahrzehnte ignoriert hatte. Geändert haben die 1,5 Meter in der Praxis jedoch nicht viel.
Immerhin: Regelmäßige Kontrollen erziehen Verkehrsteilnehmer:innen zu einem gewissen Maß an Regeltreue, sagt unter anderem die Polizei Berlin. Um das Problem von Verkehrsbehinderungen und Gefahrensituationen zu unterbinden sei darum „eine spür- und sichtbare kontinuierliche Verkehrsüberwachung zur Erreichung einer positiven Beeinflussung des generellen Verkehrsverhaltens im Berliner Straßenverkehr notwendig“. Doch während es seit Jahrzehnten Geräte gibt, die Geschwindigkeit oder Sicherheitsabstand automatisiert und rechtssicher dokumentieren können, steckt die Technik für die Messung des Überholabstands von Auto und Fahrrad allenfalls in den Kinderschuhen.
„Bei der Belehrung bei einer Kontrolle denken die Leute eher drüber nach“
Michael Klump, Polizei Mannheim
So bleibt es bei punktuellen Kontrollen und Handarbeit: In Heidelberg und Mannheim zum Beispiel suche die Polizei potenziell unfallträchtige Straßen aus, auf denen aufgrund der geringen Fahrbahnbreite ein gesetzeskonformes Überholen überhaupt nicht möglich sei, sagt Michael Klump von der Polizei Mannheim. Dort passiert dann dies: „Ein Beamter beobachtet am Straßeneingang den Überholvorgang und macht gegebenenfalls Bilder. Per Funk wird dann ein Kollege informiert, der den Autofahrer an Ort und Stelle anhält und aufklärt.“ Die Belehrung bei der Kontrolle haben einen klaren Vorteil, so Klump: „Dann denken die Leute eher drüber nach, als wenn sie nach vier Wochen ein Bußgeldbescheid per Post bekommen.“
Der Nachteil: Das Verfahren ist mühsam und nur an ganz bestimmten Stellen möglich. Und dennoch sieht so die Praxis in vielen deutschen Städten aus, wie etwa die Polizei Hamburg, die Polizei Hannover sowie Roland Huhn, Referent Recht beim ADFC bestätigen. Folge: Der Kontrolldruck bleibt auf niedrigem Niveau. Auch gibt es keine Statistiken über die Anzahl der Messungen oder die Häufigkeit von Verstößen, um Gefahrenschwerpunkte auszumachen.
Und selbst das neue Verkehrszeichen 277.1, das „Verbot des Überholens von einspurigen Fahrzeugen für mehrspurige Kraftfahrzeuge und Krafträdern mit Beiwagen“, sei im massenhaften Einsatz nicht sinnvoll, sagt Huhn. „Denn ein zusätzlich beschildertes Überholverbot an Stellen, an denen bereits die allgemeine Regel gilt, würde das allgemeine Überholverbot entwerten.“ Es käme daher besser in Baustellen und anderen schwer zu überblickenden Verkehrslagen zum Einsatz.
Vor der Entwicklung automatisierter Verfahren zum Schutz Radfahrender sind jedoch viele technische und juristische Fragen zu beantworten: Wie genau wird der Abstand definiert? Wie berücksichtigt man das natürliche Schwanken des Fahrrads oder kurzfristige Lenkbewegungen? Spielt ein Höhenunterschied in der Fahrbahn eine Rolle? Bei der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig, zuständig für die Zulassung und Bewertung solcher Geräte, laufen keine entsprechenden Freigabe-Verfahren. Es dürften also noch ein paar Jahre vergehen, bis sich diese Situation ändert.
Dafür wurde die Bike-Community aktiv. Der Verein Open Bike Sensor hat einen Bausatz zur seitlichen Abstandsmessung zwischen Fahrrad und überholendem Fahrzeug entwickelt. Der muss allerdings selbst zusammengebaut und die Messung muss manuell ausgelöst werden: Sie erfasst den Abstand, macht aber keine potenziellen Beweisbilder. Dem Verein geht es aber auch nicht um Strafen, sondern die „Messung und Auswertung relevanter Daten“, um die Verkehrssicherheit auf wissenschaftlicher Basis zu erhöhen – und natürlich öffentlich darüber zu reden. Inzwischen sind in etwa zwei Dutzend deutscher Städten Sensoren Marke Eigenbau im Einsatz und sammeln Daten zu Auto-Fahrrad-Überholvorgängen.
Die baden-württembergische Landeshauptstadt Stuttgart hat des Themas ebenfalls kürzlich angenommen. In ihrem Auftrag ging die Hochschule Karlsruhe im vergangenen Sommer mit zwei Messungen anhaltenden Beschwerden von Radfahrenden in der Böblinger Straße nach – mit grobpixeliger und damit datenschutzkonformer Videoaufzeichnung und anschließender händischer Auswertung. Ziel waren laut der Stadt „Erkenntnisse für die zukünftigen Radverkehrsplanung“ auf jenem Abschnitt. Ein erster Schritt in Richtung automatisierter Überholabstandskontrolle? Leider nein. Für die Feststellung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten sei diese Methode nicht geeignet.
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Fritz Schwirz
Die orangeroten Abstandshalter zum Ausklappen kennt man. Die Initiative Verkehrswende Bonn wollte dem ein Update verpassen. Ihr Modell war so lang, das er eine offene Autotür hinzu gerechnet 1,5 Meter Abstand sicherstellt. Die Initiative scheiterte dann aber leider an der Produktion.
Leila König
Weil die Jenaerin Leila König von zu engen Überholmanövern genervt war, gründete sie das Start-up Dashfactory, das eine sogenannte Dashcam für Radfahrende entwickelt hat, mit der diese gefährliche Situationen dokumentieren können.